Rn 65

Die Regelung des Abs. 4 zielt ausschließlich auf die singuläre Bevorzugung des Fiskus.[137] Sie wird sachlich begründet mit der gängigen Praxis der Anordnung einer vorläufigen Insolvenzverwaltung mit Zustimmungsvorbehalt nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 Var. 2 (schwache vorläufige Insolvenzverwaltung).[138] Dem Gesetzgeber der InsO schwebte jedoch die starke vorläufige Insolvenzverwaltung als praktischer Regelfall vor.[139] Die gängige Praxis hat zur Folge, dass Steuerverbindlichkeiten aus dem Eröffnungsverfahren bisher weitgehend[140] Insolvenzforderungen nach § 38 waren. Eine starke vorläufige Insolvenzverwaltung hat dagegen nach Abs. 2 die Konsequenz, dass (u. a.) auch Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis im Eröffnungsverfahren Masseverbindlichkeiten sind. Durch die praktisch seltene Anordnung der starken vorläufigen Insolvenzverwaltung sieht der Gesetzgeber Steuerausfälle, die durch die Einführung von Abs. 4 kompensiert werden sollen.[141] Außerdem begründet der Gesetzgeber die Bevorrechtung mit der Stellung des Fikus als Zwangsgläubiger, der als solcher keine Möglichkeit habe, seine Schuldner auszusuchen und keine Möglichkeit habe, seine Ansprüche mit Sicherheiten zu hinterlegen.[142]

 

Rn 66

Dabei berücksichtigt der Gesetzgeber nicht, dass es auch andere systematisch vergleichbare Gläubiger gibt, gegenüber denen Verbindlichkeiten im Insolvenzeröffnungsverfahren typischerweise anwachsen. Dazu gehören insbesondere Sozialversicherungsträger, Gläubiger von Zwangsbeiträgen und wegen § 112 häufig auch Vermieter; mithin diejenigen Gläubiger, deren Bezahlung der Insolvenzmasse keinen unmittelbaren gleichwertigen Vorteil erbringt. Zahlungen an diese Gläubiger darf der schwache vorläufige Insolvenzverwalter ohne Gefahr einer Haftung nach § 60 nicht zustimmen.[143] In systematischer Hinsicht sind alle anderen Zwangsgläubiger und ggf. die Vermieter[144] ebenso schutzwürdig wie der Fiskus.

 

Rn 67

Die Nachteile der Zwangsgläubigerschaft im Insolvenzverfahren werden durch die Vorteile der Zwangsgläubigerschaft außerhalb des Insolvenzverfahrens aufgewogen. Zu diesen Vorteilen gehört die Möglichkeit, die eigenen Forderungen selbst für vollstreckbar zu erklären und damit wesentlich schneller und effektiver durchsetzen zu können. Auch im späteren Insolvenzverfahren hat diese Möglichkeit der wesentlich schnelleren Zwangsvollstreckung von Sozialversicherungs-[145] und Steuerforderungen[146] Vorteile, da Zwangsvollstreckungshandlungen außerhalb des Drei-Monats-Zeitraums in der Regel nicht anfechtbar sind.[147] Die Zwangsgläubigerschaft führt überdies nicht nur einseitig zu Nachteilen durch das automatische Entstehen von Insolvenzforderungen, sondern auch zu Vorteilen der automatischen Partizipation am wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens.

 

Rn 68

Aus den vorgenannten Gründen handelt es sich also nicht um eine Kompensation, sondern um eine sachlich nicht hinreichend begründete einseitige Privilegierung durch den Gesetzgeber. Nach der Gesetzesbegründung sollen ausdrücklich nicht nur Verluste vermieden, sondern auch "zusätzliche Einnahmequellen für den Fiskus im Insolvenzverfahren erschlossen werden."[148] In diesem Lichte sind auch die weiteren Privilegierungen des Fiskus zu betrachten, die ebenfalls mit dem Haushaltsbegleitgesetz 2011 eingeführt wurden.[149] In der Gesetzesbegründung wurde nicht einmal der Versuch unternommen, die einseitige Bevorzugung dogmatisch zu begründen. Das wiegt umso schwerer, als die Regelung des Abs. 4 mit dem bestehenden "System" des Insolvenzsteuerrechts nur schwer in Einklang zu bringen ist und zu erheblichen Wertungswidersprüchen führt.[150]

 

Rn 69

Seit Abschaffung der Fiskusvorrechte durch die InsO wurde an verschiedenen Stellen erfolgreich versucht, Fiskusvorrechte "durch die Hintertüre" wieder einzuführen.[151] Nach verschiedenen gescheiterten Versuchen[152] hat der Gesetzgeber mit Abs. 4 und § 96 Abs. 3 ausdrücklich einseitige Bevorzugungen des Fiskus normiert. Ein wesentlicher Zweck der InsO, die Abschaffung von Gläubigervorrechten,[153] wird durch diese Regelungen konterkariert. Für die praktische Handhabung wäre es erheblich einfacher, dem Fiskus analog zur Rechtslage nach § 61 Abs. 1 Nr. 2 KO auf Ebene der Insolvenzforderungen einen Vorrang einzuräumen und dafür auf die seit Einführung der InsO durch Rechtsprechung und Gesetzgebung eingeführten zersplitterten Vorrechte auf Ebene der Masseverbindlichkeiten und Aufrechnungsverbote zu verzichten.

[137] Vgl. Gesetzesbegründung BR-Drucks. 532/10, S. 27 f.; S. 51, 53; BT-Drs. 17/3030, S. 2.
[138] BR-Drucks. 532/10, S. 53.
[139] MünchKomm-Hefermehl, § 55 Rn. 239.
[140] Umsatzsteuer war nach der Rechtsprechung des BFH insoweit ohnehin Masseverbindlichkeit. BFH NZI 2009, 447 [BFH 29.01.2009 - V R 64/07] (BStBl. II 2009, S. 682) für die Ist-Versteuerung und BFH NZI 2011, 336 [BFH 09.12.2010 - V R 22/10] (BStBl. II 2011, S. 996) für die Soll-Versteuerung.
[141] BR-Drucks. 532/10, S. 51, 53.
[142] BR-Drucks. 532/10, S. 27 f., 51.

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