Entscheidungsstichwort (Thema)

Steuerbegünstigter Veräußerungsgewinn eines Freiberuflers trotz Fortführung seiner selbständigen Arbeit

 

Leitsatz (NV)

1. Veräußert ein Freiberufler seine Praxis, so schließt die Aufnahme oder Fortführung einer selbständigen Arbeit des Veräußerers im bisherigen örtlichen Wirkungsbereich die Annahme einer "Veräußerung" i. S. d. § 18 Abs. 3 EStG dann nicht aus, wenn die Tätigkeit im Auftrag des Erwerbers ausgeübt wird.

2. Es macht keinen Unterschied, ob die Tätigkeit des Veräußerers selbständig oder nichtselbständig ausgeübt wird.

 

Normenkette

EStG § 18 Abs. 3, § 16 Abs. 4

 

Verfahrensgang

FG Köln

 

Tatbestand

Der im Jahre 1916 geborene Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) besaß bis zum 31. März 1988 eine freiberufliche Arztpraxis. Diese verkaufte er zum 31. März 1988 mit sämtlichen Einrichtungsgegenständen an einen Praxisnachfolger. Für diesen übernahm er in der Zeit nach dem 31. März 1988 die Sprechstunde jeweils am Freitagnachmittag (16.00 bis 17.00 Uhr). Außerdem betreute er über den 31. März 1988 hinaus alte Patienten in einem Alten- bzw. Pflegeheim. Für alles erhielt er von dem Praxisnachfolger ein Pauschalhonorar. Seine Zulassung als Kassenarzt gab der Kläger zum 31. März 1988 zurück.

In seiner Einkommensteuererklärung 1988 erklärte der Kläger einen laufenden Gewinn aus freiberuflicher Tätigkeit in Höhe von 93 041 DM und einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 60 000 DM. In dem laufenden Gewinn waren Einnahmen aus Vertretungstätigkeit für den Praxisnachfolger in Höhe von 4 486 DM enthalten.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) gewährte im Einkommensteuerbescheid 1988 vom 11. Mai 1990 für den Veräußerungsgewinn nicht den Freibetrag gemäß §§ 18 Abs. 3, 16 Abs. 4 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Der Einspruch blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt.

Das FA rügt mit seiner vom Bundesfinanzhof (BFH) zugelassenen Revision die Verletzung von § 18 Abs. 3 i. V. m. § 16 Abs. 4 EStG.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Sie war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

1. a) Nach § 18 Abs. 3 i. V. m. § 16 Abs. 4 EStG sind Veräußerungsgewinne u. a. dann steuerbegünstigt, wenn ein freiberuflich Tätiger das seiner selbständigen Arbeit dienende Vermögen veräußert und dabei einen Gewinn erzielt. Eine Veräußerung in diesem Sinne setzt voraus, daß der Steuerpflichtige die für die Ausübung der selbständigen Arbeit wesentlichen wirtschaftlichen Grundlagen entgeltlich auf einen anderen überträgt (BFH-Urteil vom 24. Mai 1956 IV 24/55 U, BFHE 63, 27, BStBl III 1956, 205; Stuhrmann in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 18 Rdnrn. D 8 und 9). Zu den wesentlichen wirtschaftlichen Grundlagen gehören insbesondere die immateriellen Wirtschaftsgüter der Praxis wie Mandantenstamm und Praxiswert (vgl. BFH-Urteil vom 14. März 1975 IV R 78/71, BFHE 116, 8, BStBl II 1975, 661; Stuhrmann, a.a.O., Rdnr. D 18; Schmidt/Seeger, Einkommensteuergesetz, 12. Aufl., § 18 Anm. 34 b). Nach ständiger BFH-Rechtsprechung ist bei Praxisübertragungen eine Veräußerung dieser wesentlichen Betriebsgrundlagen nur dann anzunehmen, wenn der Veräußerer seine Tätigkeit in dem bisherigen örtlichen Wirkungskreis wenigstens für eine gewisse Zeit einstellt (vgl. BFH-Urteile vom 14. Mai 1970 IV 136/65, BFHE 99, 126, BStBl II 1970, 566; in BFHE 116, 8, BStBl II 1975, 661; vom 27. April 1978 IV R 102/74, BFHE 125, 249, BStBl II 1978, 562; vom 7. November 1985 IV R 44/83, BFHE 145, 522, BStBl II 1986, 335; vom 7. November 1991 IV R 14/90, BFHE 166, 527, BStBl II 1992, 457). An dieser Rechtsprechung hält der erkennende Senat grundsätzlich fest.

Im steuerrechtlichen Schrifttum besteht jedoch Meinungsstreit darüber, ob die Aufnahme oder Fortführung einer selbständigen Arbeit des Veräußerers im bisherigen örtlichen Wirkungsbereich eine "Veräußerung" auch dann ausschließt, wenn die Tätigkeit im Auftrag des Erwerbers ausgeübt wird. Erdweg (in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 18 EStG Rdnr. 160) und Fitsch (in Lademann/Söffing, Einkommensteuergesetz, § 18 Rdnr. 197) halten eine nichtselbständige Tätigkeit des Veräußerers für unschädlich (ebenso: Oberfinanzdirektion -- OFD -- Düsseldorf, Verfügung vom 28. Februar 1989, Der Betrieb -- DB -- 1989, 555). Fitsch schließt jedoch die Annahme einer "Veräußerung" aus, wenn der Praxisveräußerer im bisherigen örtlichen Wirkungskreis als freier Mitarbeiter des Erwerbers tätig wird (ebenso: OFD Düsseldorf, a.a.O.). Busse (Betriebs-Berater -- BB -- 1989, 1951) hält dagegen auch ein freies Mitarbeiterverhältnis für steuerunschädlich. Schmidt/Seeger (a.a.O., § 18 Anm. 34 b) halten das von der Rechtsprechung entwickelte Tatbestandsmerkmal der zeitweiligen Berufseinstellung am bisherigen Tätigkeitsort für verfassungsrechtlich bedenklich, solange die Einbringung einer Praxis in eine Sozietät als Veräußerung gelte, wenn die stillen Reserven aufgedeckt würden (vgl. BFH-Urteil vom 13. Dezember 1979 IV R 69/74, BFHE 129, 380).

b) Der Senat geht davon aus, daß eine Tätigkeit des bisherigen Praxisinhabers im Auftrag und für Rechnung des Praxiserwerbers der Anwendung des § 18 Abs. 3 EStG nicht entgegensteht, wobei es keinen Unterschied macht, ob die Tätigkeit selbständig oder nichtselbständig ausgeübt wird. Dies folgt aus dem Wortlaut und dem Sinn der Vorschrift. Entscheidend ist, ob die bisherige Praxis mit ihren immateriellen Wirtschaftsgütern definitiv auf einen Erwerber übertragen wird. Das Erfordernis einer zeitweiligen Einstellung der freiberuflichen Tätigkeit am bisherigen örtlichen Wirkungskreis beruht auf der Überlegung, daß bei fortdauernder Tätigkeit des Freiberuflers in seinem bisherigen örtlichen Wirkungskreis eine weitere Nutzung der persönlichen Beziehungen zu den bisherigen Patienten für Rechnung des "Veräußerers" naheliegt. Dies steht einer echten Übertragung der wesentlichen wirtschaftlichen Grundlagen der Praxis auf den Erwerber entgegen (vgl. Blümich/Hutter, Einkommensteuergesetz/Körperschaftsteuergesetz, § 18 EStG Rdnr. 166; Stuhrmann, a.a.O., § 18 Rdnr. D 16; Nieland in Littmann/Bitz/Hellwig, Das Einkommensteuerrecht, § 18 Rdnr. 377). Diese Überlegung greift jedoch dann nicht durch, wenn der Veräußerer seine Tätigkeit nur noch für Rechnung des Erwerbers ausübt. Zwar kann die Mitarbeit des Praxisveräußerers den Umfang und die Art von Beziehungen des Erwerbers zu dem übertragenen Patientenstamm beeinflussen. Daraus folgt jedoch nicht, daß keine "Veräußerung" i. S. des § 18 Abs. 3 EStG stattgefunden hätte. Für die Anwendung der Vorschrift ist allein entscheidend, ob der Veräußerer die wesentlichen Grundlagen seiner Praxis definitiv auf den Erwerber überträgt. Dies ist der Fall, wenn der Erwerber zivilrechtlich und wirtschaftlich in der Lage ist, diese Beziehungen zu verwerten. Beschäftigt er den bisherigen Praxisinhaber noch als Arbeitnehmer oder als freien Mitarbeiter, so bestehen zwischen dem Praxisveräußerer und den Patienten keine selbständigen Rechtsbeziehungen mehr. Die Patienten unterhalten Rechtsbeziehungen nur zu dem Erwerber. Er allein ist Inhaber des Honoraranspruchs gegen den Patienten. Damit verfügt er allein zivilrechtlich und wirtschaftlich über die Vorteile aus dem Patientenstamm. Der Praxisveräußerer hat denselben endgültig übertragen.

2. Im Streitfall wurden die früheren Patienten des Klägers seit der Praxisveräußerung für Rechnung und im Namen des Praxiserwerbers betreut. Der Kläger erhielt die für seine Beratungstätigkeit erzielten Honorare nicht von seinen bisherigen Patienten, sondern von dem Praxiserwerber. Er selbst hatte keine Ansprüche gegen einzelne Patienten. Unter diesen Umständen steht die fortdauernde Tätigkeit des Klägers im früheren örtlichen Bereich der Annahme einer Veräußerung i. S. des § 18 Abs. 3 EStG nicht entgegen.

3. Mit seiner Entscheidung weicht der erkennende Senat nicht von der Rechtsprechung des IV. Senats des BFH ab (vgl. BFH-Urteile in BFHE 145, 522, BStBl II 1986, 335; in BFHE 166, 527, BStBl II 1992, 457). Die Rechtsprechung betrifft anders gelagerte Sachverhalte. Die dort gemachten Rechtsausführungen können auf den Streitfall schon deshalb nicht übertragen werden, weil sie stets Sachverhalte betrafen, in denen der Praxisveräußerer Teile von immateriellen Wirtschaftsgütern zurückbehielt, um sie weiterhin für eigene Rechnung zu nutzen. Dies gilt für das Urteil in BFHE 145, 522, BStBl II 1986, 335, weil dort darauf abgestellt wird, ob der auch vom ausscheidenden Sozius mitgeschaffene Praxisnamen als Grundlage für die von ihm weitergeführte freiberufliche Tätigkeit fortwirke. Dies ist ausgeschlossen, wenn -- wie im Streitfall -- der Praxisveräußerer nur noch für Rechnung des Praxiserwerbers tätig wird. Im Urteil in BFHE 166, 527, BStBl II 1992, 457 wurde ein begünstigter Veräußerungsgewinn angenommen. Der IV. Senat äußert in dieser Entscheidung selbst Zweifel daran, ob die Tätigkeit als Betriebsarzt und als stellvertretender Truppenarzt bei der Bundeswehr als Teil der Allgemeinpraxis eines Arztes anzusehen sei. Im Sinne dieser Rechtsprechung sieht der erkennende Senat in der ausschließlich für Rechnung des Praxiserwerbers ausgeübten freiberuflichen Tätigkeit des Praxisveräußerers keinen Teil seiner früheren Allgemeinpraxis.

4. Die Vorentscheidung entspricht diesen Rechtsgrundsätzen. Sie verletzt deshalb kein Bundesrecht.

 

Fundstellen

BFH/NV 1995, 109

BB 1995, 187

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Steuer Office Gold. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge