Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht, Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Haftet jemand für Steuern aus einem rechtskräftigen Steuerbescheid, der ganz oder zum Teil auf einer verfassungswidrigen Norm beruht, so dürfen mit dem Haftungsbescheid keine Steuern von dem Haftenden angefordert werden, die bei einer Veranlagung unter Beachtung der Verfassungswidrigkeit nicht angefallen wären.
Normenkette
AO § 97 Abs. 2, § 119 Abs. 2; BVerfGG § 79 Abs. 2
Tatbestand
Der Bf. ist mit Haftungsbescheid gemäß § 109 AO für Steuerrückstände u. a. an Umsatz-, Gewerbe-, Vermögen- und Körperschaftsteuer der W-GmbH in Anspruch genommen worden.
Die GmbH, an der zuletzt der Bf. und H. beteiligt waren, wurde mit Ablauf des 31. Dezember 1951 aufgelöst. Zum Liquidator der GmbH wurde der Bf., der bis dahin Geschäftsführer der GmbH gewesen war, bestellt.
Der Bf. wickelte die schwebenden Geschäfte der GmbH zunächst nicht ab, setzte auch das Vermögen derselben nicht in Geld um, sondern schloß weiterhin neue Geschäfte ab und versuchte wiederholt, die GmbH wieder aufleben zu lassen.
Im Jahre 1959 teilte der Bf. mit, daß die Liquidation der GmbH durch den Verkauf des gesamten Gesellschaftsvermögens beendet und der Betrieb am 31. Oktober 1958 eingestellt worden sei.
Das Finanzamt forderte den Bf. auf, eine Aufstellung über die an ihn oder Dritte geleisteten Zahlungen einzureichen und den Nachweis über die Verwendung der vereinnahmten Beträge zu erbringen. Dieser Aufforderung kam der Bf. nicht nach. Daraufhin erließ das Finanzamt einen Haftungsbescheid über Steuerrückstände aus den Jahren 1947 bis 1958.
Im Rechtsmittelverfahren wurde die Haftungssumme beschränkt, dem Grunde nach wurden Einspruch und Berufung zurückgewiesen. Der Bf. sei als Geschäftsführer und als Liquidator der GmbH verpflichtet gewesen, dafür zu sorgen, daß die Steuern aus den Mitteln der GmbH entrichtet und die anderen Pflichten erfüllt wurden. Diese Pflichten habe der Bf. vernachlässigt, denn ohne das pflichtwidrige Verhalten wäre eine Steuerverkürzung nicht eingetreten. Als Liquidator sei er allein für die ordnungsmäßige Abwicklung verantwortlich gewesen, zu der neben der Versilberung des Vermögens auch die Verwaltung der Einkünfte aus den schwebenden Geschäften der GmbH gehörte. Der Bf. habe es schuldhaft unterlassen, dem Finanzamt Mitteilung über den Verkauf der Gegenstände zu machen und das erhaltene Geld bzw. die ihm zur Verfügung stehenden Mittel der GmbH neben der Tilgung anderer Schulden auch für die Zahlung der Steuerrückstände der GmbH zu verwenden.
Entscheidungsgründe
Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Den Ausführungen der Vorinstanz ist im allgemeinen zu folgen. Sie hat zutreffend festgestellt, daß für den Geschäftsführer und Liquidator einer GmbH zwar keine Verpflichtung besteht, alle vorhandenen Mittel in erster Linie für die Zahlung von Steuern zu verwenden, daß aber seine Sorgfalt bei Erfüllung der steuerlichen Pflichten nicht geringer sein darf als bei der Erfüllung seiner sonstigen Obliegenheiten, insbesondere der Befriedigung seiner anderen Gläubiger (vgl. Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 319/52 U vom 19. Februar 1953, BStBl 1953 III S. 161, Slg. Bd. 57 S. 412).
Gleichwohl ist die Vorentscheidung aufzuheben. Die Haftung erstreckt sich u. a. auf Gewerbesteuer. Bei Berechnung des Gewerbeertrages sind dem geschätzten Gewinn für die Jahre 1950, 1951, 1955, 1956 und 1958 Geschäftsführergehälter gemäß § 8 Ziff. 6 GewStG zugerechnet worden. Diese Zurechnung war unzulässig, weil diese Vorschrift nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1 BvR 845/58 vom 24. Januar 1962 (BStBl 1962 I S. 500) dem Grundgesetz widerspricht und nichtig ist. Nach § 119 Abs. 2 AO muß der Haftende eine rechtskräftige Steuerschuld gegen sich gelten lassen, wenn er in der Lage gewesen wäre, den Bescheid anzufechten. Das trifft zwar für den Bf. zu. Nach § 79 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt; bei noch nicht rechtskräftigen Bescheiden ist die Nichtigkeit der Norm zu beachten. Hier ist zwar der Steuerbescheid gegen die GmbH rechtskräftig, nicht aber der Haftungsbescheid, so daß bei diesem die Verfassungswidrigkeit des § 8 Ziff. 6 GewStG nicht unberücksichtigt bleiben darf. Nach § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ist im übrigen die Vollstreckung auch aus einer rechtskräftigen Entscheidung, die auf einer für verfassungswidrig erklärten Norm beruht, unzulässig. Es ist darum in jedem Fall geboten, daß der Haftungsbescheid die Verfassungswidrigkeit des § 8 Ziff. 6 GewStG berücksichtigt.
Fundstellen
Haufe-Index 410808 |
BStBl III 1963, 341 |
BFHE 1964, 66 |
BFHE 77, 66 |