Entscheidungsstichwort (Thema)

Unschädliche Falschbezeichnung der beklagten Behörde; Tarifierung orthopädischer Vorrichtungen

 

Leitsatz (NV)

1. Die Falschbezeichnung der beklagten Behörde ist unschädlich und ihre Berichtigung keine parteiwechselnde Klageänderung, wenn die Klageschrift die angefochtenen Bescheide, aus denen sich die erlassende Behörde ergibt, vollständig und zutreffend bezeichnet und diese vor Ablauf der Klagefrist nachgereicht werden.

2. ,,Oberschenkelschützer" zum Ruhigstellen verletzter Muskeln sind orthopädische Vorrichtungen der Tarifnr. 90.19 GZT.

 

Normenkette

FGO § 63 Abs. 1 Nr. 1, § 67; GZT Tarifnr. 90.19; ATV 3, a

 

Tatbestand

Die Klägerin beantragte eine verbindliche Zolltarifauskunft (vZTA) über eine als ,,Oberschenkelschützer" bezeichnete Ware aus Kunststoff mit Gewebeeinlage und Verstärkung mit Stahlspiralflachfedern, genäht, die aus den USA und Kanada bezogen werden soll. Als Verwendungszweck war zunächst ,,Schutzbekleidung für Leistungssportler" angegeben, später die Behandlung von Sportverletzungen wie Muskelfaserrissen.

Die Oberfinanzdirektion (OFD) wies das Erzeugnis als ,,andere" konfektionierte Wirkware, weder gummielastisch noch kautschutiert, der Tarifst. 60.05 B II GZT zu.

Mit einem beim Bundesfinanzhof (BFH) am 1. Oktober eingegangenen Schriftsatz erhob die Klägerin nach erfolglosem Einspruch Klage gegen ,,die Oberfinanzdirektion H", und zwar wegen der ,,vZTA . . ." und der ,,Einspruchsentscheidung vom . . ."; Abschriften der angefochtenen Entscheidungen seien beigefügt. Tatsächlich lagen sie jedoch nicht bei, sondern wurden von der Klägerin erst mit einem am 9. Oktober 1984 beim BFH eingegangenen Schreiben eingereicht. Der Klageschrift war eine Prozeßvollmacht der Klägerin auf ihren Prozeßbevollmächtigten ,,in Sachen gegen OFD F wegen Zolltarif" beigegeben. Mit Schreiben vom 19. November 1984 erklärte die Klägerin, die Beklagte sei falsch bezeichnet worden, das Passivrubrum müsse richtig lauten: ,,Oberfinanzdirektion F".

 

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig.

Sie war gegen die Behörde zu richten, die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hatte (§ 63 Abs. 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), also gegen die OFD. In der Klageschrift ist dagegen die OFD H als Beklagte (vgl. § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO) bezeichnet worden. Wäre die OFD H beklagt, so müßte, weil diese Behörde nicht prozeßführungsbefugt ist, die Klage durch Prozeßurteil abgewiesen werden (Urteil des Senats vom 26. Februar 1980 VII R 60/78, BFHE 130, 12, 16, BStBl II 1980, 331, 333). Daran würde nichts ändern, daß die Klägerin nach Ablauf der Klagefrist erklärt hat, richtige Beklagte sei die OFD. Denn bei fristgebundenen Klagen wie der - hier gegebenen - Anfechtungsklage (vgl. § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO) ist eine den Beteiligten wechselnde Klageänderung im Sinne von § 67 FGO nur innerhalb der Frist statthaft, außer wenn die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 FGO vorliegen (Senatsurteil, a.a.O.).

Der Senat sieht indessen die Klage als von Anfang an gegen die OFD gerichtet an. Daß diese in der mit der Klageschrift eingereichten Prozeßvollmacht als Gegnerin angegeben worden ist, würde allerdings noch nicht genügen, um die Bezeichnung der Beklagten als nur unklar und im weiteren Verfahren berichtigungsfähig erscheinen zu lassen. Auch würde es nicht ausreichen, daß die Klägerin in der Klageschrift die angefochtenen Bescheide vollständig und zutreffend bezeichnet hat, denn Abschriften der Bescheide, aus denen sich die erlassende Behörde ergeben hätte, lagen der Klageschrift nicht bei. Die Klägerin hat diese Abschriften aber noch vor Ablauf der Klagefrist eingereicht. Damit ist - noch rechtzeitig - deutlich geworden, daß die OFD die richtige Beklagte und die Angabe der OFD H nur eine unschädliche Falschbezeichnung war.

Die Klage ist auch begründet.

Die sog. Oberschenkelschützer sind zu Unrecht nach ihrer stofflichen Beschaffenheit tarifiert worden, denn die Waren sind orthpädische Vorrichtungen der Tarifnr. 90.19 GZT. Diese Tarifnummer bezeichnet die Ware genauer als die Tarifst. 60.05 B II GZT - ,,andere" Wirkwaren, weder gummielastisch noch kautschutuiert, aus synthetischen Spinnstoffen, konfektioniert -, der sie nach der Allgemeinen Tarifierungs-Vorschrift (ATV) 3 a vorgeht. Nach den Erläuterungen zur Nomenklatur des Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens in Teil I der Erläuterungen zum Zolltarif (ErlZT) zu Tarifnr. 90.19 Rz. 4 dienen orthopädische Vorrichtungen u. a. zum Stützen oder Halten von Organen nach einer Krankheit. Die Erläuterungen, die zwar keine Rechtsnormen, aber nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften maßgebliche Erkenntnismittel bei der Auslegung des GZT sind, legen insoweit den für die rechtliche Beurteilung maßgebenden Wortlaut der Tarifnummer 90.19 (vgl. ATV 1) zutreffend aus. Die sog. Oberschenkelschützer erfüllen die in Betracht kommende Voraussetzung, weil sie Vorrichtungen sind, die zum Halten von Muskeln - Organen - im Oberschenkelbereich nach Muskelfaserrissen - einer medizinisch-orthopädischen Indikation - dienen.

Die OFD stellt, wie sich aus der Begründung ihrer Einspruchsentscheidung ergibt, selbst nicht in Abrede, daß die Waren diesem Zweck dienen. Sie räumt auch ein, daß Muskelfaserrisse eine medizinische Indikationsstellung begründen, meint aber, diese sei nicht orthopädischer Art. Letzterem vermag der Senat nicht beizupflichten. Allerdings müssen, wie der Senat entschieden hat (Urteil vom 29. Januar 1985 VII K 13/84, BFHE 142, 539, 541), orthopädische Vorrichtungen der Tarifst. 90.19 C GZT einer bestimmten, als ,,orthopädisch" zu wertenden Indikation entsprechen. Dies trifft jedoch bei den sog. Oberschenkelschützern zu, im Gegensatz zur Auffassung der OFD, die von einem zu eng gefaßten Begriff ,,Orthopädie" ausgeht, wenn sie dieser nur die ,,Aufrichtung des menschlichen Skelettsystems" zurechnet, ohne Berücksichtigung der Skelettmuskulatur, die auch nach der von der OFD angeführten gutachtlichen Äußerung Gegenstand der Orthopädie ist.

Orthopädie ist die Lehre von der Entstehung, Verhütung und Behandlung angeborener oder erworbener Fehler in Form oder Funktion des Bewegungsapparates (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 254. Aufl. 1982, S. 860). ,,Bewegungsapparat" ist eine zusammenfassende Bezeichnung für Knochen, Bänder, Gelenke und Skelettmuskeln (Duden, Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke, 3. Aufl. 1979, S. 149). Skelettmuskeln sind die Muskeln, die die Bewegung der Körperteile gegeneinander ermöglichen (Zetkin-Schaldach, Wörterbuch der Medizin, 5. Aufl. 1974, Bd. 2, S. 921). Diese Zusammenhänge machen deutlich, daß auch die Behandlung von Muskelfaserrissen der Skelettmuskulatur im Oberschenkelbereich der orthopädischen Therapie zuzurechnen ist. Dieser Verwendungszweck der sog. Oberschenkelschützer würde selbst dann nicht in Frage gestellt sein, wenn mit der gutachterlichen Äußerung, auf die die OFD sich beruft, angenommen würde, eine orthopädische Vorrichtung sei zur Behandlung von Muskelfaserrissen des Oberschenkels nicht notwendig. Denn aus dieser Äußerung ergibt sich nicht - erst recht nicht näher begründet -, daß die sog. Oberschenkelschützer zur Erzielung der mit ihnen verfolgten Wirkung - der Ruhigstellung des verletzten Muskels, einer nach Ansicht des Senats durchaus in Betracht kommenden Therapie - ungeeignet seien.

Die sog. Oberschenkelschützer, die - wie ausgeführt - einem ihre Zuweisung zu der Tarifnr. 90.19 GZT rechtfertigenden Zweck dienen, sind auch Vorrichtungen im Sinne dieser Tarifnummer. Sie sind mit den orthopädischen Suspensorien vergleichbar, die mit Ausnahmen einfacher Suspensorien, etwa solcher - nur - aus Gewirken, zu dieser Tarifnummer gehören (ErlZT, a.a.O., Rz. 22; vgl. auch Senatsurteil vom 29. Januar 1985 VII JK 13/84), aufgrund der Angaben der Klägerin über ihre Beschaffenheit - nach innen wirkende Bandagen -, denen die OFD nicht entgegengetreten ist, auch mit den zur Tarifnr. 90.19 GZT gehörenden medizinisch-chirurgischen Gürteln.

 

Fundstellen

Haufe-Index 413912

BFH/NV 1985, 119

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