Entscheidungsstichwort (Thema)

Recht auf Akteneinsicht und Zustellung von Schriftsätzen nach Klageverbindung

 

Leitsatz (NV)

1. Nach der Verbindung mehrerer Klagen gegen einen Feststellungsbescheid gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 FGO haben die Kläger Anspruch auf Einsicht in die Gerichtsakten der übrigen Kläger und auf Zustellung ihrer Schriftsätze.

2. Das Beschwerdeverfahren wegen Akteneinsicht wird durch den Konkurs des Beschwerdeführers nicht unterbrochen.

 

Normenkette

FGO §§ 77-78, 128 Abs. 2, § 155; ZPO § 240

 

Verfahrensgang

FG Bremen

 

Tatbestand

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Beschwerdeführer) ist an der ,,Bauherrengemeinschaft S" beteiligt. Der Beklagte (das Finanzamt - FA -) sah die 19 Mitglieder der Bauherrengemeinschaft nach einer Betriebsprüfung als Erwerber der Eigentumswohnungen an. Das FA erließ für die Streitjahre 1976 bis 1978 gesonderte und einheitliche Feststellungsbescheide, in denen es für 1976 keinen und für 1977 sowie 1978 einen erheblich geringeren als den erklärten Überschuß der Werbungskosten über die Einnahmen feststellte und auf die Mitglieder der Bauherrengemeinschaft verteilte. Dagegen erhoben nach erfolglosem Vorverfahren der Beschwerdeführer sowie fünf weitere Mitglieder der Bauherrengemeinschaft - letztere gemeinsam durch einen Prozeßbevollmächtigten vertreten - Klage. Das Finanzgericht (FG) verband die Klagen durch Beschluß nach § 73 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung und lud diejenigen Mitglieder der Bauherrengemeinschaft, die nicht Klage erhoben hatten, nach § 60 Abs. 3 FGO zum Verfahren bei. Für jeden der Kläger hat das FG eine besondere Akte angelegt; die Beigeladenen haben keine Schriftsätze zur Sache eingereicht.

Der Beschwerdeführer beantragte beim FG mit Schriftsatz vom 29. August 1986, ihm die Klagebegründungen und die sonstigen Schriftsätze zu den mit seinem Verfahren verbundenen Klageverfahren zuzustellen sowie ihm Einsicht in diese Akten und die dem Gericht vorgelegten Akten zu gewähren, nachdem er die Akten des FA eingesehen hatte. Er begründete seinen Antrag damit, der Prozeßbevollmächtigte der anderen Kläger stelle seine Unterlagen nicht zur Verfügung. Das FG lehnte den Antrag mit dem angefochtenen Beschluß ab. In der Begründung führte es aus, der Beschwerdeführer sei nicht Beteiligter in den mit seiner Klage verbundenen anderen Verfahren. Er habe daher keinen Anspruch auf Zustellung der Schriftsätze und auf Einsichtnahme in die Gerichtsakten. Er habe auch kein dringendes Interesse an der Akteneinsicht, weil er die Behördenakten eingesehen habe und über den Stand der Sache im Verbindungsbeschluß unterrichtet worden sei.

Dagegen richtet sich die Beschwerde, mit der der Beschwerdeführer seinen Antrag aus dem Schriftsatz vom 29. August 1986 wiederholt.

Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Nur die Beigeladenen zu 4, 5 und 12 haben sich auf Anfrage der Geschäftsstelle des erkennenden Senats mit der Akteneinsicht einverstanden erklärt. Die übrigen Beteiligten haben keine Erklärung abgegeben. Über das Vermögen des Klägers W ist nach Einlegung der Beschwerde das Konkursverfahren eröffnet worden.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist zulässig und im wesentlichen begründet. Der angefochtene Beschluß der Vorinstanz ist aufzuheben. Der Beschwerdeführer darf die Gerichtsakten der übrigen Beteiligten einsehen; ihm sind deren Schriftsätze von Amts wegen zuzustellen, soweit sie dem Gericht nach Ergehen des Verbindungsbeschlusses eingereicht wurden.

1. Das Beschwerdeverfahren ist durch den Konkurs über das Vermögen des Klägers W nicht nach § 155 FGO i. V. m. § 240 der Zivilprozeßordnung (ZPO) unterbrochen. Es betrifft weder unmittelbar noch mittelbar die Konkursmasse dieses Klägers. Umstritten ist das Recht des Beschwerdeführers auf Einsicht in die beim FG geführten Akten und auf Zustellung der Schriftsätze der übrigen Beteiligten. Dieser Gegenstand des Beschwerdeverfahrens steht weder unmittelbar noch mittelbar mit der Konkursmasse des vom Konkurs betroffenen Klägers in Verbindung.

2. Der angefochtene Beschluß gehört, wie der Bundesfinanzhof (BFH) wiederholt entschieden hat, nicht zu den unanfechtbaren prozeßleitenden Verfügungen i. S. des § 128 Abs. 2 FGO (Beschlüsse vom 29. September 1967 III B 31/67, BFHE 90, 312, BStBl II 1968, 82; vom 16. Juli 1974 VII B 31/74, BFHE 113, 94, BStBl II 1974, 716; für die Art und Weise der Einsichtnahme auch Beschluß vom 24. März 1981 VII B 64/80, BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475).

3. Der erkennende Senat legt den Antrag dahin aus, daß der Beschwerdeführer nur die Einsichtnahme in die beim FG geführten Akten der übrigen Kläger und die Zustellung der Schriftsätze dieser Kläger begehrt. Soweit er in der Vorinstanz auch beantragt hat, ihm Einsichtnahme in die beim FA geführten Feststellungsakten nebst Beiakten zu gewähren, ist der Antrag durch Einsichtnahme in diese Akten erledigt.

4. a) Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO können die Beteiligten die Gerichtsakten einsehen. § 77 Abs. 1 Satz 4 FGO bestimmt, daß die dem Gericht eingereichten Schriftsätze den übrigen Beteiligten von Amts wegen zuzustellen sind. Sowohl der Anspruch auf Einsichtnahme in die Gerichtsakten als auch der Anspruch auf Zustellung der Schriftsätze der übrigen Beteiligten setzen voraus, daß der Beschwerdeführer Beteiligter im Sinne dieser Vorschriften ist. Nach § 57 Nr. 1 FGO ist Beteiligter am Verfahren u. a. der Kläger. Durch den Verbindungsbeschluß nach § 73 Abs. 1 Satz 1 FGO werden die Kläger der bisherigen Einzelverfahren zu Streitgenossen (Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 73 Anm. 2; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 73 FGO Anm. 4). Weil die Entscheidung allen Streitgenossen gegenüber nur einheitlich ergehen kann, handelt es sich um eine notwendige Streitgenossenschaft nach § 59 FGO i. V. m. § 62 Abs. 1 Alternative 1 ZPO (Beschluß des BFH vom 6. Juli 1977 I R 182/76, BFHE 122, 437, BStBl II 1977, 696). Auch bei der notwendigen Streitgenossenschaft bleibt allerdings jeder Streitgenosse selbständige Prozeßpartei und kann nur in seinem Prozeß handeln (Tipke/Kruse, a.a.O., § 59 FGO Anm. 3; Thomas/Putzo, Zivilprozeßordnung mit Nebengesetzen, 15. Aufl., § 62 Anm. 5). Durch die Verbindung dieser selbständigen Verfahren nach § 73 FGO werden jedoch die einzelnen Verfahren zu einem gemeinschaftlichen Verfahren zusammengefaßt. Es findet nur eine mündliche Verhandlung statt und es ergeht - weil die Verfahren zur einheitlichen Entscheidung verbunden sind - nur ein Urteil. Die Beteiligten an den bisherigen Einzelverfahren werden Beteiligte an dem gemeinschaftlichen Verfahren.

Daß der Beschwerdeführer Beteiligter i. S. der §§ 77 und 78 FGO ist, ergibt sich zudem mittelbar aus § 73 Abs. 2 FGO. Die Beiladung des Beschwerdeführers zu dem Verfahren der übrigen Kläger, die notwendig wäre, wenn er nicht Klage erhoben hätte (§ 60 Abs. 3 FGO), wird durch die Verbindung der Verfahren ersetzt. Hätte der Kläger nicht selbst geklagt und wäre er zu den Verfahren der übrigen Kläger beigeladen worden, so wäre er in diesen Verfahren nach § 57 Nr. 3 FGO Beteiligter. Seine Rechtsstellung kann nicht deshalb schlechter sein, weil er, statt seine Beiladung abzuwarten, selbst Klage erhoben hat. Ein Beigeladener wird allerdings, wie das FG zutreffend ausführt, regelmäßig ohne sein Zutun durch den Beiladungsbeschluß in den Prozeß hineingezogen, während ein Kläger durch die Klageerhebung das gerichtliche Verfahren selbst in Gang setzt. Dieser Unterschied zwingt indes nicht dazu, einen Kläger in bezug auf die umstrittenen Rechte schlechterzustellen als einen notwendig Beigeladenen. Der Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -) und sein Bedürfnis nach Information über das Vorbringen der übrigen Kläger ist nicht geringer als das eines Beigeladenen.

b) Dem Recht auf Akteneinsicht und Zustellung der Schriftsätze der übrigen Kläger steht das Steuergeheimnis (§ 30 Abs. 1 der Abgabenordnung - AO 1977 -) nicht entgegen. Nach § 30 Abs. 4 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a AO 1977 ist die Offenbarung von Verhältnissen eines Dritten zur Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens in Steuersachen zulässig. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall erfüllt. Das gerichtliche Verfahren über die angefochtenen Feststellungsbescheide läßt sich nur durchführen, wenn der Beschwerdeführer die Schriftsätze der übrigen Kläger kennt. Nach § 96 Abs. 2 FGO darf das Gericht seine Entscheidung nur auf solche Tatsachen stützen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Sein Äußerungsrecht kann der Beschwerdeführer nur wahrnehmen, wenn ihm der Inhalt der Schriftsätze der übrigen Beteiligten bekannt ist. Das wird besonders deutlich, wenn das Urteil des FG nicht aufgrund mündlicher Verhandlung, sondern im schriftlichen Verfahren ergeht; dann könnte der Kläger nicht einmal in der mündlichen Verhandlung von den Schriftsätzen der übrigen Beteiligten Kenntnis erlangen. Das Steuergeheimnis kann nach den besonderen Umständen des Falles auch deshalb nicht verletzt werden, weil es lediglich um die gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte einer ,,Bauherrengemeinschaft" geht. Sowohl über das Gesamtergebnis (Überschuß der Werbungskosten über die Einnahmen) einschließlich der Verrechnung dieses Gesamtergebnisses im einzelnen als auch über die Verteilung des Gesamtergebnisses auf die Mitglieder der Bauherrengemeinschaft gibt der Betriebsprüfungsbericht, der dem Beschwerdeführer durch Einsichtnahme in die Akten des FA bekannt ist, eingehend Auskunft.

c) Da der Beschwerdeführer Beteiligter i. S. der §§ 77 und 78 FGO ist, kann offenbleiben, ob das Recht auf Akteneinsicht im finanzgerichtlichen Verfahren entsprechend § 299 Abs. 2 ZPO ausnahmsweise Dritten zustehen kann und die Beschwerde deshalb auch dann Erfolg haben könnte, wenn der Beschwerdeführer nicht Beteiligter i. S. der §§ 77 und 78 FGO wäre.

d) Das Recht auf Zustellung der Schriftsätze nach § 77 Abs. 1 Satz 4 FGO erstreckt sich allerdings nicht auf diejenigen Schriftsätze, die dem Gericht vor Ergehen des Verbindungsbeschlusses eingereicht worden sind. Die Rechtsstellung als Beteiligter hat der Beschwerdeführer erst mit dem Verbindungsbeschluß erlangt (ebenso für die Beiladung Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz. 6459 unter Hinweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 6. November 1953 II C 35/53, BVerwGE 1, 27). Daß kein Anspruch auf Zustellung der vor dem Verbindungsbeschluß eingereichten Schriftsätze besteht, ergibt sich mittelbar aus § 77 Abs. 1 Satz 3 FGO. Nach dieser Vorschrift sollen die Beteiligten Abschriften ihrer Schriftsätze für die übrigen Beteiligten beifügen. Als übrige Beteiligte, für die Abschriften beizufügen sind, kommen nur diejenigen in Betracht, die bei Einreichung der Schriftsätze bereits die Rechtsstellung von Beteiligten hatten. Der Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs wird durch diese Beschränkung der Zustellungspflicht nicht beeinträchtigt. Er kann von den vorher eingereichten Schriftsätzen durch Akteneinsicht Kenntnis nehmen und sich zusätzlich nach § 78 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO durch die Geschäftsstelle auf seine Kosten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen lassen.

 

Fundstellen

BFH/NV 1989, 173

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