Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit der öffentlichen Zustellung eines Haftungsbescheids bei Wohnsitz des Haftungsschuldners in der Schweiz

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Zustellungsfiktion eines öffentlich zugestellten Verwaltungsakts ist verfassungsrechtlich nur zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung aus sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar ist. Die öffentliche Zustellung ist nur als „letztes Mittel” der Bekanntgabe zulässig, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln.

2. Eine andere Form der Zustellung des Haftungsbescheids in die Schweiz war nicht möglich, da die dortigen Behörden keine Amts- oder Rechtshilfe bei der Zustellung in Steuersachen leisten.

 

Normenkette

VwZG §§ 14-15; AO § 122 Abs. 5; GG Art. 103 Abs. 1

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 12.01.2011; Aktenzeichen I R 37/10)

BFH (Urteil vom 12.01.2011; Aktenzeichen I R 37/10)

 

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

I.

Streitig ist, ob der Kläger für Abgabenschulden der Firma XY S.A. (Firma) haftet. Der Kläger ist in der Schweiz ansässig und war Vorstand und gesetzlicher Vertreter der Firma. Er hatte im Inland weder einen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt. Die Anschrift der Firma und die des, als Rechtsanwalt tätigen, Klägers sind identisch.

Im Zusammenhang mit Darlehenszinsen ergingen im Jahr 2003 Steuerbescheide gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 5 c) aa) Einkommensteuergesetz (EStG) wegen erhaltener Darlehenszinsen gegen die Firma. Die Einsprüche dagegen wurden mit Einspruchsentscheidung vom 19. April 2010 als unzulässig und unbegründet zurückgewiesen.

Mit Haftungsbescheid vom 2. April 2004 wurde der Kläger für Abgabenschulden der Firma in Haftung genommen. Der Gesamtbetrag der Haftungsschulden belief sich auf 591.998,72 EUR. Wegen der Details wird auf diesen Bescheid Bezug genommen.

Mit Schreiben vom 29. Januar 2004 – dessen Zugang der Kläger bestreitet – hat das FA einen Haftungsbescheid angekündigt und den Kläger aufgefordert, einen inländischen Empfangsbevollmächtigten zu benennen. Eine solche Benennung ist nicht erfolgt. Der Haftungsbescheid wurde im April 2004 öffentlich zugestellt.

Nach einer Zahlungsaufforderung durch das FA vom 19. März 2009 über 844.573,92 EUR legte der Kläger mit Schreiben vom 31. März 2009 Einspruch gegen den Haftungsbescheid ein, der mit Einspruchsentscheidung vom 4. September 2009 als unzulässig, weil verfristet, verworfen wurde.

Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Klage vom 7. Oktober 2009:

  • Die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung des Haftungsbescheids lägen nicht vor. Die öffentliche Zustellung sei damit unwirksam. Der oberste Grundsatz, dass jedem rechtliches Gehör und Rechtsmittel gegen staatliche Maßnahmen zustehen müssen sei verletzt. Das FA sei verpflichtet sich telefonisch oder über elektronische Medien zu versichern, ob Schriftstücke zugegangen sind, bzw. den Empfänger über den Versand zu informieren.
  • Der Haftungsbescheid sei rechtswidrig. Dem deutschen Fiskus sei kein Schaden entstanden, weil die Betriebsausgaben auf der einen Seite nicht anerkannt worden seien. Damit hätten auf der anderen Seite auch keine steuerlichen Einnahmen zu entstehen.

Auf den Klageschriftsatz und die ergänzenden Schreiben vom 15. Februar 2010 und vom

20. April 2010 wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen.

Ein gerichtlicher Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (6 V 3193/09) wurde mit Beschluss des Senats vom 10. Dezember 2009 als unbegründet abgelehnt.

Der Kläger beantragt,

den Haftungsbescheid vom 2. April 2004 und die Einspruchsentscheidung vom 4. September 2009 aufzuheben,

hilfsweise die Revision zuzulassen.

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen.

  • Eine Verpflichtung des FA, sich telefonisch oder über elektronische Medien zu versichern, ob Schriftstücke zugegangen sind, bzw. den Empfänger über den Versand zu informieren, bestehe nicht.
  • Da die deutschen Auslandsvertretungen in der Schweiz weder Zustellungen in Fiskalsachen an eigene noch an fremde Staatsangehörige oder an Staatenlose bewirken dürften und die Schweiz auch gegen eine postalische Bekanntgabe Bedenken erhoben habe, müsse sich der Kläger das Verhalten seines Wohnsitzstaates zurechnen lassen.

Am 27. April 2010 fand der Termin der mündlichen Verhandlung statt. Auf die Niederschrift wird Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

II.

1. Die Klage ist unbegründet.

a) Zutreffend hat das FA die Auffassung vertreten, dass der Kläger den Einspruch verspätet eingelegt hat, weil der Haftungsbescheid wirksam zugestellt wurde und die Rechtsbehelfsfrist im April 2004 zu laufen begonnen hatte.

Das FA hat für die Zustellung die Form der öffentlichen Bekanntmachung gewählt, da der Kläger in der Schweiz wohnte. Die vom FA angeordnete öffentliche Zustellung des Haftungsbescheides vom 2. April 2004 ist nach § 15 Verwaltungszustellungsgesetz a.F (VwZG) i.V.m. § 122 Abs. 5 der Abgabenordnung (AO) wirksam. Ein Schr...

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