Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Urlaubsabwesenheit

 

Leitsatz (redaktionell)

  • Wird während der Urlaubszeit ein Bußgeldbescheid durch Niederlegung bei der Post zugestellt und aus Unkenntnis der Ersatzzustellung die Einspruchsfrist versäumt, ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Wer eine ständige Wohnung hat und diese nur vorübergehend während seines regelmäßigen Jahresurlaubs nicht benutzt, braucht für die Zeit einer solchen Abwesenheit grundsätzlich keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen, dies gilt selbst dann, wenn er zuvor von der Polizei als Betroffener angehört worden war und deshalb mit der Möglichkeit rechnen mußte, daß ihm ein Bußgeldbescheid zugestellt werden könnte.
  • Eine Wiedereinsetzung kommt allerdings in solchen Fällen nicht in Betracht, wenn dem Zustellungsempfänger anderweit ein Verschulden zur Last fällt, weil er etwa die Abholung der niedergelegten Sendung vernachlässigt oder sich einer erwarteten Zustellung vorsätzlich entziehen wollte.
 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; StPO § 44

 

Verfahrensgang

LG Köln (Beschluss vom 24.08.1972; Aktenzeichen 37 Qs OWi 516/72)

 

Gründe

A. – I.

1. Der Oberstadtdirektor – Amt für öffentliche Ordnung – der Stadt Köln erließ am 19. Mai 1972 gegen den Beschwerdeführer einen Bußgeldbescheid über eine Geldbuße von 80 DM wegen einer Ordnungswidrigkeit nach §§ 37, 49 StVO. Der Bußgeldbescheid wurde dem Beschwerdeführer, der unmittelbar nach dem Vorfall von der Polizei als Betroffener angehört worden war, am 30. Mai 1972 durch Niederlegung bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Postanstalt zugestellt. Am 14. Juni 1972 erhob der Beschwerdeführer Einspruch gegen den Bußgeldbescheid. Zugleich beantragte er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist und trug dazu vor, er sei erst am 8. Juni 1972 aus einem am 9. Mai 1972 angetretenen Familienurlaub in Österreich zurückgekehrt. Deshalb habe er erst zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von der Zustellung erlangt.

2. Durch Beschluß vom 4. Juli 1972 verwarf das Amtsgericht Köln Einspruch und Wiedereinsetzungsgesuch. Zur Versagung der Wiedereinsetzung führte es aus: Der Beschwerdeführer habe die Fristversäumung selbst verschuldet. Er habe weder durch Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten noch durch einen Nachsendeauftrag dafür Sorge getragen, daß die Einspruchsfrist während seines Urlaubs habe gewahrt werden können, obwohl er nach der Anhörung durch die Polizei mit der Zustellung eines Bußgeldbescheides habe rechnen müssen.

3. Dagegen wandte der Beschwerdeführer sich mit der sofortigen Beschwerde und machte geltend, daß er nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gehalten gewesen sei, für die Zeit seines Urlaubs besondere Vorkehrungen zu treffen.

4. Das Landgericht Köln verwarf am 24. August 1972 die sofortige Beschwerde aus den für zutreffend erachteten Gründen der angefochtenen Entscheidung.

II.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen diesen Beschluß. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das Landgericht habe die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Tragweite des Art. 103 Abs. 1 GG außer acht gelassen und die Anforderungen an seine Sorgfaltspflicht überspannt. Einen Nachsendeauftrag habe er nicht stellen können, weil er bei der Abreise noch nicht genau gewußt habe, wo er sich jeweils aufhalten werde.

III.

Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen.

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

Hat ein Betroffener die Frist zur Einlegung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid versäumt, so gibt ihm regelmäßig nur die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Möglichkeit, sich überhaupt rechtliches Gehör zu verschaffen. Zwar sind für die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung die prozeßrechtlichen Vorschriften maßgebend. Bei deren Auslegung und Anwendung dürfen aber die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung und damit zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im summarischen Verfahren nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 25, 158 [165]; 26, 315 [318]; 31, 388 [390]; 34, 154 [156]). Diesem in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefestigten Grundsatz wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht.

Wer eine ständige Wohnung hat und diese nur vorübergehend während seines regelmäßigen Jahresurlaubs nicht benutzt, braucht für die Zeit einer solchen Abwesenheit grundsätzlich keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen (vgl. BVerfGE 25, 158 [166]; 26, 315 [319); 34, 154 [156]). Dies gilt auch dann, wenn er zuvor von der Polizei als Betroffener angehört worden war und deshalb mit der Möglichkeit rechnen mußte, daß ihm ein Bußgeldbescheid zugestellt werden könnte. Der Staatsbürger muß darauf vertrauen können, daß er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhalten wird, falls ihm während der Urlaubszeit ein Bußgeldbescheid durch Niederlegung bei der Post zugestellt wird und er aus Unkenntnis der Ersatzzustellung die Einspruchsfrist versäumt (vgl. BVerfGE 34, 154 [156]). Eine Wiedereinsetzung kommt allerdings auch in solchen Fällen nicht in Betracht, wenn ihm anderweit ein Verschulden zur Last fällt, wenn er etwa die Abholung der niedergelegten Sendung vernachlässigt oder sich einer erwarteten Zustellung vorsätzlich entziehen wollte.

Der angegriffene Beschluß beruht auf der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß dem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt worden wäre, wenn das Landgericht Bedeutung und Tragweite des Art. 103 Abs. 1 GG hinreichend beachtet hätte.

Da die angefochtene Entscheidung gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstößt, ist sie aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Landgericht zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG. Erstattungspflichtig ist das Land Nordrhein-Westfalen, dem der erfolgreich gerügte Verfassungsverstoß zuzurechnen ist.

Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.

 

Fundstellen

BVerfGE, 296

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