Entscheidungsstichwort (Thema)

Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Durch Unfall einäugig Blinden steht der in Abschn. 213 EStR 1951 (Abschn. 40 LStR 1952) vorgesehene Pauschbetrag zu.

 

Normenkette

EStG § 33; LStDV § 26/2; LStR Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2; GG Art. 3 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Beschwerdegegner (Bg.) hat im Alter von 14 Jahren durch Unfall das rechte Auge verloren und trägt eine Prothese. Das Finanzamt trug ihm am 17. Februar 1953 antragsgemäß einen Pauschbetrag von 360 DM jährlich auf der Lohnsteuerkarte 1953 ein. Am 27. März 1953 widerrief es mit Rückwirkung ab 1. Januar 1953 diese Eintragung. Der Bg. verlangte mit dem Einspruch die Weitergewährung des Pauschbetrags. Er führte aus, ohne Prothese könne er in seinem Beruf als Buchhalter nicht arbeiten oder er müsse dauernd eine Binde tragen. Die Prothese müsse jährlich erneuert werden. Die Krankenkasse vergüte aber nur alle zwei Jahre 75 v. H. der Kosten. Die Reisekosten nach H, wo er die Prothese anfertigen lasse, ersetze die Krankenkasse überhaupt nicht. Das Finanzamt wies den Einspruch als unbegründet zurück, weil der Bg. als Einäugiger nicht zu dem Personenkreis gehöre, der nach § 26 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (LStDV) 1952 in Verbindung mit Abschn. 40 der Lohnsteuerrichtlinien (LStR) 1952 Anspruch auf einen Pauschbetrag wegen Körperbeschädigung habe.

Das Finanzgericht gab der Berufung statt. Es führte im wesentlichen aus, der Amtsarzt habe bescheinigt, daß die Erwerbsfähigkeit beim Bg. infolge des Unfalls um mindestens 25. v. H. gemindert sei und daß die dauernde Beeinträchtigung der körperlichen Bewegungsfreiheit äußerlich erkennbar sei.

Mit der Rechtsbeschwerde (Rb.), die das Finanzgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat, rügt der Vorsteher des Finanzamts unrichtige Auslegung des Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 in Verbindung mit Abs. 4 LStR 1952. Nach seiner Auffassung fallen Einäugige nicht unter den begünstigten Personenkreis, weil sie in ihrer körperlichen Beweglichkeit nicht äußerlich erkennbar behindert seien.

Der Senat hat den Bundesminister der Finanzen ersucht, dem Verfahren beizutreten. Der Bundesminister der Finanzen hat vom Beitritt abgesehen, hat aber zu den streitigen Rechtsfragen Stellung genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist nicht begründet.

Das Finanzgericht hat Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1952, wonach körperbeschädigten Arbeitnehmern unter bestimmten Voraussetzungen nach dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit gestaffelte Pauschbeträge zustehen, angewendet und ausgelegt, ohne zu der Frage Stellung zu nehmen, ob diese Bestimmung eine Rechtsnorm oder nur eine von den Steuergerichten nicht auszulegende Verwaltungsanweisung ist.

In dem Urteil des Obersten Finanzgerichtshofs IV 47/50 U vom 4. Juli 1950 (Bundessteuerblatt - BStBl - 1951 I S 284) ist Abschn. 40 Abs. 4 Ziff. 2 LStR 1948, der inhaltlich im wesentlichen mit Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1952 übereinstimmte, als ein vor Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) ergangener Milderungserlaß angesehen worden, der in § 13 der Reichsabgabenordnung (AO) 1934 seine Rechtsgrundlage hatte. Die Rechtslage ist indessen nicht eindeutig. Nach § 26 Abs. 3 Ziff. 3 der Lohnsteuer-Durchführungsbestimmungen (LStDB) 1939 hatten sogenannte Zivilversehrte Anspruch auf einen Pauschbetrag. Durch Unfall Einäugige gehörten zweifelsfrei zu den Zivilversehrten. Die LStDB 1939, die der Reichsminister der Finanzen erlassen und im Reichsgesetzblatt veröffentlicht hatte, waren Rechtsnormen, die, soweit sie hier in Betracht kommen, in §§ 12, 13 AO und § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) eine einwandfreie Rechtsgrundlage hatten. In der LStDV 1949, die der Direktor der Verwaltung für Finanzen des Vereinigten Wirtschaftsgebiets am 16. Juni 1949 erließ, wurde § 26 wesentlich geändert. In Abs. 1 wurden die den körperbeschädigten Arbeitnehmern zu gewährenden Pauschbeträge angeführt. In Abs. 2 war sodann bestimmt: "Der Kreis der körperbeschädigten Arbeitnehmer, die den Pauschbetrag in Anspruch nehmen können, wird mit Zustimmung des Bundesrats durch die Bundesregierung bestimmt." Zuvor schon hatte der Direktor der Verwaltung für Finanzen des Vereinigten Wirtschaftsgebiets am 8. Dezember 1948 in Abschn. 40 Abs. 4 Ziff. 2 LStR 1948 den Kreis der begünstigten Zivilgeschädigten gegenüber § 26 Abs. 3 Ziff. 3 LStDB in verschiedener Hinsicht eingeschränkt. So wurde zum Beispiel bei Unfallgeschädigten nunmehr verlangt, daß durch den Unfall die körperliche Beweglichkeit dauernd beeinträchtigt sei und dies äußerlich erkennbar sein müsse. Diese Einschränkung ist dann von der Bundesregierung in den LStR für spätere Jahre im wesentlichen unverändert aufrechterhalten worden.

Der Senat ist der Auffassung, daß die änderung, die § 26 LStDB 1939 als Rechtsnorm erfuhr, bevor die Gesetzgebung im Rahmen des GG einsetzen konnte, nach den damaligen undurchsichtigen staatsrechtlichen Verhältnissen rechtswirksam war. Abschn. 40 Abs. 4 Ziff. 2 LStR 1948 muß aber dann auch als ein Milderungserlaß angesehen werden, den der Direktor der Verwaltung für Finanzen des Vereinigten Wirtschaftsgebiets auf Grund der damals noch geltenden Vorschrift des § 13 AO wirksam erlassen konnte. Die Regelung hat im wesentlichen unverändert auch im Streitjahr 1953 bestanden. Solche wirksam erlassenen fortgeltenden Milderungserlasse sind aber von den Steuergerichten zu beachten und auszulegen (vgl. zuletzt Urteil des Bundesfinanzhofs I 285/56 U vom 7. Mai 1957, BStBl 1957 III S. 264).

Der Senat kommt demnach zu dem Ergebnis, daß das Finanzgericht mit Recht Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1952 angewendet und ausgelegt hat.

Sachlich tritt der Senat der Rechtsauffassung des Finanzgerichts bei. In Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 1952 wird vorausgesetzt, daß der Beschädigte durch den Unfall eine dauernde Einbuße seiner körperlichen Beweglichkeit erlitten hat; die Körperbehinderung muß außerdem äußerlich erkennbar sein. Augenleiden, soweit sie nicht zur Erblindung geführt haben, genügen nicht.

Der Auffassung des Finanzamts, daß der Verlust eines Auges ein "Augenleiden" sei, kann der Senat nicht folgen. Nach dem Sprachgebrauch kann man von "Augenleiden" nur bei Augenerkrankungen, wie Star usw., sprechen. Ein Glied, das nicht vorhanden ist, ist nicht krank. Niemand wird eine Person, der ein Arm amputiert ist, als "armleidend" bezeichnen. Die Bundesregierung stellt auch offenbar die im gleichen Zusammenhang erwähnten "inneren Krankheiten (z. B. Zuckerkrankheit, Herzerweiterung, Lungentuberkulose)" auf eine Stufe mit den "Augenleiden". Sie hat also wohl nur an organische Erkrankungen noch vorhandener Glieder gedacht.

Bei einem einäugig Blinden ist der körperliche Schaden auch äußerlich erkennbar, gleichviel, ob der Beschädigte eine Prothese oder eine Augenbinde trägt. Davon geht auch der Bundesminister der Finanzen aus.

Zweifelhaft ist nur, ob bei ihnen die "körperliche Beweglichkeit" eingeschränkt ist. Das Merkmal der "körperlichen Beweglichkeit" ist schwer abzugrenzen. Es kann dabei nicht nur an eine Beeinträchtigung der Möglichkeit der mechanischen Fortbewegung, wie zum Beispiel bei Beinamputierten, gedacht sein. Denn dann würden sogar viele Beinamputierte und die meisten Armamputierten nicht unter die Begünstigung fallen. Die Rechtsprechung hat den Begriff teilweise weit ausgelegt. So hat sie im Urteil des Obersten Finanzgerichtshofs IV 47/50 U bei einem Steuerpflichtigen, der an den Folgen einer Thorax-Operation litt, eine Beeinträchtigung der körperlichen Beweglichkeit angenommen, obwohl die Möglichkeit zur mechanischen Fortbewegung sicher nicht beeinträchtigt war. In anderen Fällen wurde der Begriff eng gefaßt. So wurde im Urteil des Obersten Finanzgerichtshofs III 3/49 S vom 11. Mai 1949 (Slg. Bd. 54 S. 326, Ministerialblatt des Bundesministers der Finanzen 1949/1950 S. 332) verneint, daß bei einem Gehörlosen die körperliche Beweglichkeit beeinträchtigt sei. In dem amtlich nicht veröffentlichten Urteil IV 8/51 vom 9. Februar 1951 hat der IV Senat des Bundesfinanzhofs angenommen, daß ein durch Unfall einäugig Blinder in der körperlichen Beweglichkeit nicht behindert sei, weil er am Verkehr teilnehmen könne und dabei die durch das Fehlen eines Auges auftretende Behinderung erfahrungsgemäß durch eine Steigerung der Gehörfähigkeit ausgeglichen werde. Auch der Bundesminister der Finanzen vertritt die Auffassung, daß bei Verlust eines Auges, wenn keine weiteren Schäden dazu kämen, die Bewegungsfreiheit des Körpers, das heißt der freie Gebrauch der Gliedmaßen, nicht beeinträchtigt sei.

Nach Auffassung des Senats kann der Begriff der körperlichen Beweglichkeit nicht eng ausgelegt werden, wenn man zu einer sinnvollen Abgrenzung kommen will. Ein einäugig Blinder ist im Verkehr behindert, weil er nicht plastisch sehen kann; er verliert dadurch die Fähigkeit, Entfernungen, vor allem in der Dunkelheit, richtig zu schätzen. Das genügt, um eine Beeinträchtigung der körperlichen Beweglichkeit anzunehmen.

Der Senat sieht sich zu dieser weiten Auslegung vor allem auch aus den folgenden beiden Erwägungen veranlaßt:

Ein durch Kriegsbeschädigung einäugig Blinder erhält gemäß Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 1 LStR 1952 einen Pauschbetrag. Seine Aufwendungen infolge der Beschädigung sind keinesfalls größer als bei einem Unfallgeschädigten; er erhält im Gegenteil gewöhnlich sogar eine Versorgungsrente und Beihilfen für die Prothese. § 26 LStDB 1939 hatte denn auch die Fälle der Kriegs- und Unfallbeschädigung gleichgestellt. Der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, im Rahmen des geltenden Rechts eine Auslegung zu erstreben, bei der gleichgelagerte Fälle auch steuerlich möglichst gleichmäßig behandelt werden.

Gehörlose sind erstmals in Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1952 in den Kreis der begünstigten Personen aufgenommen worden, obgleich bei ihnen nach dem Urteil des Obersten Finanzgerichtshofs III 3/49 S, das in den LStR auch erwähnt wird, die Bewegungsfreiheit des Körpers nicht eingeschränkt ist. Die Verhältnisse liegen aber bei Gehörlosen nicht wesentlich anders als bei einäugig Blinden. Eine unterschiedliche Behandlung wäre mit Art. 3 Abs. 1 GG schwer zu vereinbaren.

Nach allem war die Rb. des Vorstehers des Finanzamts als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 408932

BStBl III 1958, 42

BFHE 1958, 107

BFHE 66, 107

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