Leitsatz (amtlich)

1. Zur Frage der Anberaumung einer beantragten mündlichen Verhandlung durch die Finanzgerichte. Der Senat tritt den Rechtsgrundsätzen der Entscheidung des I. Senats I 181/60 S vom 17. Oktober 1961 (BStBl 1962 III S. 57) bei.

2. Hat ein Steuerpflichtiger die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung nur "angeregt" für den Fall, daß das Finanzgericht noch Fragen stellen wolle, so kann das Finanzgericht gemäß § 272 AO die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung einstimmig ablehnen, wenn die Verhandlung nach Auffassung des Finanzgerichts keine weitere Aufklärung erwarten läßt.

 

Normenkette

AO § 272

 

Tatbestand

Der Bf. ist Heimatvertriebener im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes. Zur Zeit der Vertreibung war er als HJ-Führer tätig. Für das Jahr 1958 beantragte er, ihm die Vergünstigung für nicht entnommenen Gewinn gemäß § 10 a EStG zu gewähren, weil er durch die Vertreibung seine Erwerbsgrundlage verloren habe. Er sei als Photograph ausgebildet worden, habe aber eine entsprechende Anstellung trotz seiner Bemühungen nicht bekommen, weil er von der HJ nicht freigegeben worden sei. Das Finanzamt lehnte die beantragte Vergünstigung ab. Der Einspruch und die Berufung blieben ohne Erfolg.

Mit seiner Rb. rügt der Bf. als Verfahrensmangel, daß das Finanzgericht trotz seines Antrags keine mündliche Verhandlung anberaumt und ihm dadurch keine ausreichende Gelegenheit zur Darstellung seiner Lage gegeben habe. Sachlich bringt er vor, er habe sich nach Ablegung der Prüfung als Photograph wiederholt um eine Anstellung bemüht. Nachdem ihm das im Juli 1944 auch gelungen sei, habe er nur 10 Tage tätig sein können, weil die HJ ihn wieder gefaßt und zwangsweise ins Lager zurückgebracht habe.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist nicht begründet.

Der gerügte Verfahrensmangel liegt nicht vor. Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs II 293/58 U vom 28. Juni 1961 (BStBl 1961 III S. 411), dem der Senat beitritt, bedeutet es zwar einen wesentlichen Verfahrensmangel, wenn das Finanzgericht zu einem Antrag des Steuerpflichtigen auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung nicht Stellung genommen hat. Im Streitfall hat das Gericht, wie es § 272 AO zuläßt, im Urteil den Antrag einstimmig abgelehnt und dies damit begründet, daß "in einer mündlichen Verhandlung keine für die Entscheidung in anderer Richtung maßgeblichen Erkenntnisse, insbesondere auf dem Gebiet der Tatsachenfeststellung, zu erwarten waren". Auch bei begründeter Ablehnung eines Antrags auf mündliche Verhandlung kann unter Umständen ein Verfahrensmangel vorliegen. Wie der I. Senat des Bundesfinanzhofs im Urteil I 181/60 S vom 17. Oktober 1961 (BStBl 1962 III S. 57) ausgeführt hat, ist die Ablehnung des Antrags auf mündliche Verhandlung eine Ermessensentscheidung des Finanzgerichts, die der Bundesfinanzhof daraufhin prüfen kann, ob das Finanzgericht bei der Ablehnung des Antrags die Grenzen von Recht und Billigkeit beachtet hat. Im allgemeinen soll den Anträgen der Steuerpflichtigen auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung stattgegeben werden. Der erkennende Senat tritt der Auffassung des I. Senats bei.

Aber auch nach diesen Grundsätzen liegt hier ein wesentlicher Verfahrensmangel nicht vor. Der Steuerpflichtige hat nur die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung "angeregt" und diese "Anregung" nicht etwa damit begründet, daß er noch weitere Darlegungen für erforderlich halte, sondern nur damit, daß das Finanzgericht sich einen persönlichen Eindruck von ihm verschaffen und er erforderlichenfalls noch weitere Aufklärungen geben könne. Unter diesen Umständen konnte das Finanzgericht davon ausgehen, daß der Steuerpflichtige nicht unbedingt Wert auf eine mündliche Verhandlung lege, und durfte ohne Rechtsverstoß die "Anregung" ablehnen, nachdem es den Sachverhalt als ausreichend dargestellt ansah.

Das Finanzgericht hat auch sachlich ohne Rechtsirrtum ausgeführt, daß der Bf. keine Erwerbsgrundlage verloren habe. Es entspricht der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, daß die Beendigung der Lehrzeit nicht ausreicht, um den Verlust einer Erwerbsgrundlage anzunehmen (Urteil IV 411/55 U vom 19. Juli 1956, BStBl 1956 III S. 282, Slg. Bd. 63 S. 220). Der Verlust der Erwerbsgrundlage im Sinne des § 10 a EStG setzt den Verlust einer eigenen Erwerbsgrundlage voraus, aus der der Steuerpflichtige zur Zeit seiner Vertreibung im wesentlichen seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte und bestritten hat (Urteil des Bundesfinanzhofs VI 147/60 S vom 23. September 1960, BStBl 1960 III S. 462, Slg. Bd. 71 S. 570). Ob der Bf. 10 Tage als Gehilfe angestellt war, ist nicht entscheidend. Wesentlich ist, welche Stellung er zur Zeit seiner Vertreibung innegehabt hat (Urteil des Bundesfinanzhofs IV 57/57 U vom 5. September 1957, BStBl 1957 III S. 374, Slg. Bd. 65 S. 372). Damals war der Bf. aber im HJ-Einsatz. Ein solcher Einsatz ist keine Erwerbsgrundlage im Sinne des § 10 a EStG (Urteil des Bundesfinanzhofs VI 58/59 vom 7. Juli 1960, "Steuerrechtsprechung in Karteiform", Rechtsspruch 57 zu § 10 a EStG). Ob der Bf. in dem HJ-Einsatz freiwillig oder wider seinen Willen tätig war, ist demgegenüber ebenso unerheblich wie der Umstand, daß er durch diesen Einsatz an der Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit gehindert war.

 

Fundstellen

BStBl III 1962, 141

BFHE 1962, 373

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