Verluste aus dem entschädigungslosen Entzug von Aktien
Hintergrund: Untergang der Aktien im Rahmen des Insolvenzplans
Die X-GbR (eine Depotgemeinschaft) hatte in 2011/2012 39.000 Namensaktien o.N. der A-AG zum Gesamtkaufpreis von 36.262 EUR erworben. Im Streitjahr 2012 wurde über das Vermögen der A-AG das Insolvenzverfahren eröffnet. Aufgrund eines vom Insolvenzgericht bestätigten Insolvenzplans wurde gemäß § 225a Abs. 2 InsO u.a. das Grundkapital der AG zur Verlustdeckung auf Null herabgesetzt und eine Kapitalerhöhung unter Ausschluss des Bezugsrechts der X und der übrigen Altaktionäre beschlossen. An der Kapitalerhöhung nahm lediglich ein Gläubiger der A-AG teil. Der börsliche Handel der Altaktien wurde eingestellt. An die Altaktionäre wurde weder ein Herabsetzungsbetrag ausgekehrt noch wurde ihnen eine sonstige Entschädigung gewährt.
X machte den Verlust vergeblich bei den Einkünften aus Kapitalvermögen geltend. Die dagegen erhobene Klage wurde vom FG abgewiesen. Es liege kein Verlust aus der "Veräußerung" der Aktien i.S.v. § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG vor. Auch der Tatbestand des § 20 Abs. 2 Satz 2 EStG sei nicht erfüllt.
Entscheidung: Die Verluste können analog § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG steuerlich geltend gemacht werden
Der BFH widerspricht dem FG. Der Entzug der Aktien durch die Kapitalherabsetzung auf Null samt des Bezugsrechtsausschlusses für die anschließende Kapitalerhöhung ist entgegen der Auffassung des FG in entsprechender Anwendung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG steuerbar. Der Klägerin ist hieraus gemäß § 20 Abs. 4 Satz 1 EStG ein Verlust in der beantragten Höhe entstanden.
§ 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG ist nicht unmittelbar anwendbar
Der entschädigungslose Untergang der Aktien kann nicht unter den Veräußerungsbegriff subsumiert werden. Denn es handelt sich um einen Vorgang, bei dem weder ein Entgelt gezahlt wird noch ein Rechtsträgerwechsel stattfindet. Fehlen diese beiden Komponenten, liegt keine Veräußerung vor. Der Veräußerungsbegriff kann nicht über seinen Wortsinn hinaus umfassend in der Weise ausgelegt werden, dass er sämtliche Vorgänge erfasst, in denen der Halter seine Kapitalanlage (hier: durch Untergang des Rechts) verliert.
Es liegt auch keine Einlösung i.S.v. § 20 Abs. 2 Satz 2 EStG vor
Der Begriff der Einlösung ist zwar nicht auf Forderungen (Schuldverschreibungen) beschränkt, sondern betrifft alle Wertpapiere, die bei Fälligkeit gegen Rückgabe der Urkunde zu erfüllen sind. Der Untergang der Aktien lässt sich jedoch nicht unter das Merkmal der Einlösung fassen. Denn die Einlösung ist keine Kategorie des Gesellschaftsrechts. Der "Entzug" von Aktien und die Erfüllung darin verbriefter Forderungen erfolgt im Rahmen der besonderen aktienrechtlichen Verfahren zur Einziehung, Kapitalherabsetzung und Liquidation.
Der Vorgang ist auch nicht als verdeckte Einlage steuerbar
Eine verdeckte Einlage verlangt die Zuwendung eines bilanzierbaren Vermögensvorteils an die Gesellschaft aus gesellschaftsrechtlichen Gründen ohne eine wertadäquate Gegenleistung. Die Aktien der X wurden indes nicht als bilanzierbares Wirtschaftsgut an die A-AG übertragen, denn sie erloschen aufgrund der Kapitalherabsetzung auf Null, ohne auf diese überzugehen.
Analoge Anwendung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG geboten
Die Voraussetzungen einer Analogie – Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – sind im Streitfall erfüllt. Der Gesetzgeber hätte den Entzug von Aktien gemäß § 225a Abs. 2 InsO im Rahmen eines Insolvenzplans durch eine Kapitalherabsetzung auf Null in Verbindung mit einem anschließenden Bezugsrechtsausschluss als veräußerungsähnlichen Tatbestand geregelt, wenn er diesen Sachverhalt bei Schaffung des § 20 Abs. 2 EStG im Blick gehabt hätte. Bei der Ausgestaltung des § 20 Abs. 2 EStG kann der Gesetzgeber den Entzug durch eine Kapitalherabsetzung auf Null samt eines Bezugsrechtsausschlusses gemäß § 225a Abs. 2 InsO im Rahmen eines Insolvenzplans nicht im Blick gehabt haben. Diese Möglichkeit wurde erst 2011 geschaffen (Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen v. 7.12.2011, BGBl I 2011, 2582). Sie konnte bei der Einführung der Abgeltungsteuer zum 1.1.2009 noch nicht berücksichtigt worden sein. Die Leistungsfähigkeitsminderung des Anteilseigners ist vergleichbar mit einer Leistungsfähigkeitsminderung, die der Anteilseigner erleidet, wenn er seine Aktie noch rechtzeitig vor der Insolvenzeröffnung oder der gerichtlichen Bestätigung des Insolvenzplans ohne Gegenleistung veräußert oder wenn die Aktie ohne Entschädigung zur Weiterübertragung auf Gläubiger von der AG eingezogen wird oder wenn er die Aktie durch einen Squeeze Out (§§ 327a ff. AktG) mit Verlust verliert. Die sonach vorhandene planwidrige Gesetzeslücke ist durch eine entsprechende Anwendung des Veräußerungstatbestands gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG auf den im Streitfall eingetretenen "Aktienentzug" zu schließen.
Hinweis: Vorrang des Gleichheitssatzes
Das BMF war dem Verfahren beigetreten (§ 122 Abs. 2 FGO). Es trug vor, die Steuerbarkeit sei davon abhängig, ob ein Rechtsträgerwechsel stattgefunden hat. Nach BMF v. 18.1.2016 (BStBl I 2016, 85, Rz. 60) ist ein Forderungsausfall keine Veräußerung. Dem widerspricht der BFH unter Hinweis auf das Leistungsfähigkeits- und Folgerichtigkeitsprinzip als Ausprägung des Gleichheitssatzes. Bei gleicher Leistungsfähigkeit sind wirtschaftlich vergleichbare Verluste gleich zu behandeln.
BFH Urteil vom 03.12.2019 - VIII R 34/16 (veröffentlicht am 30.04.2020)
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