Tz. 1

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

§ 86 Satz 1 AO bestimmt den Beginn des Verwaltungsverfahrens. Die Norm erweckt den Anschein, das Opportunitätsprinzip ("Ermessen") sei Richtschnur für das Tätigwerden ("ob des Handelns") der Finanzbehörden. Mit Rücksicht auf das in § 85 AO verankerte Legalitätsprinzip, das Gebot der gesetzmäßigen und gleichmäßigen Festsetzung und Erhebung von Steuern, hat das Opportunitätsprinzip im Steuerrecht nur in Teilbereichen Bedeutung. Soweit die Entstehung und die Festsetzung des Steueranspruchs betroffen sind, ist für die Anwendung des Opportunitätsprinzips grds. kein Raum; es gilt das Legalitätsprinzip. Gründen der Verfahrensökonomie, wie sie dem Opportunitätsprinzip notwendig innewohnen, können nur die Gesetze (z. B. s. § 156 AO) Rechnung tragen. Deshalb folgt auch aus § 86 Abs. 2 Nr. 1 AO der Vorrang des Legalitätsgrundsatzes; die Finanzbehörde muss von Amts wegen tätig werden. Diese Voraussetzung ist immer erfüllt, wenn es um die Prüfung und Feststellung geht, ob ein Steueranspruch entstanden ist. Das Tätigwerden der Finanzbehörden von Amts wegen ist die Regel, nicht die Ausnahme.

Nach der hier (s. § 191 AO Rz. 6, 11) vertretenen Ansicht gilt das Opportunitätsprinzip auch hinsichtlich der Durchführung von Haftungsverfahren nur bedingt; insbes. besteht hinsichtlich der Höhe des Haftungsanspruchs kein Ermessen der Finanzbehörde.

 

Tz. 2

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Dem Legalitätsprinzip entsprechend hat die Finanzbehörde hat – abgesehen von antragsgebundenen Verfahren – stets dann ein Verwaltungsverfahren durchzuführen, wenn die ihr in § 85 AO gestellte Aufgabe es erfordert. Denn zur Besteuerungsgleichheit gehört auch die Gleichheit bei der Durchsetzung der normativen Steuerpflicht in der Steuererhebung, die Verpflichtung der mit dem Vollzug der Steuergesetze beauftragten Finanzverwaltung diese "in strikter Legalität" umzusetzen (s. BVerfG v. 27.06.1991, 2 BvR 1493/89, BStBl II 1991, 654, 665). Die Finanzbehörde muss mithin ein Verfahren einleiten, wenn aufgrund konkreter Momente oder aufgrund allgemeiner Erfahrung Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Tatbestand eines Steuergesetzes verwirklicht sein könnte, bzw. Aufklärungsmaßnahmen ergreifen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Steuern verkürzt oder zu Unrecht erhoben oder Steuererstattungen und Steuervergütungen zu Unrecht gewährt oder versagt worden sind (s. BFH 17.11.1992, VIII R 25/89, BStBl 1993 II 146). Unerheblich ist dabei, ob in tatsächlicher oder rechtlicher Beziehung Zweifel bestehen; denn diese sollen durch das Verwaltungsverfahren gerade geklärt werden.

 

Tz. 3

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Macht das Gesetz die Einleitung des Verfahrens von einem Antrag abhängig, so muss die Finanzbehörde ein Verfahren durchführen, wenn der Antrag gestellt ist (§ 86 Satz 2 Nr. 1 AO); sie darf andererseits grundsätzlich kein Verfahren durchführen, wenn sie nur auf Antrag tätig werden darf und der Antrag nicht vorliegt (§ 86 Satz 2 Nr. 2 AO). Im letztgenannten Fall kann die Finanzbehörde verpflichtet sein, auf den Antrag hinzuweisen (§ 89 AO). Zur Heilung unterlassener Antragstellung s. § 126 Abs. 1 Nr. 4 AO.

So kann z. B. die Behörde nur auf Antrag tätig werden im Falle des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG (Antragsveranlagung). Die Einschränkung des § 86 Satz 2 Nr. 2 AO ist u. E. auch bei Wahlrechten zu beachten (s. z. B. §§ 26ff. EStG, § 23 ErbStG). Bleibt die Behörde nach einem Antrag untätig, kann sich der Stpfl. mit einem Untätigkeitseinspruch oder einer Untätigkeitsklage gegen die Untätigkeit wenden. Beides kann sowohl auf den Erlass einer Entscheidung gerichtet sein, als auch – was in der Regel empfehlenswert ist – auf die Durchführung der begehrten Handlung. Dies kann z. B. der Erlass eines Verwaltungsaktes (ggf. Verpflichtungsklage) oder ein anderes Verwaltungshandeln (ggf. allg. Leistungsklage) sein.

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