1. Ereignis

 

Tz. 35

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Der Begriff "Ereignis" i. S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO umfasst alle rechtlich bedeutsamen Vorgänge. Dazu rechnen nicht nur solche mit ausschließlich rechtlichem Bezug wie z. B. Rechtsgeschäfte oder VA, sondern auch tatsächliche Lebensvorgänge (z. B. BFH v. 19.07.1993, GrS 2/92, BStBl II 1993, 897; BFH v. 12.07.2017, I R 86/15, BStBl II 2018, 138). Ebenso sind Gerichtsentscheidungen Ereignisse i. S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, nicht jedoch die in Urteilen oder behördlichen Verfügungen enthaltenen Gesetzesauslegungen oder Subsumtionen (im Einzelnen s. Rz. 56 ff.). Das Ereignis muss sachverhaltsändernde Wirkung haben.

2. Steuerliche Wirkung für die Vergangenheit

 

Tz. 36

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Eine steuerliche Wirkung für die Vergangenheit ist anzunehmen, wenn sich das Ereignis in der Weise auswirkt, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhaltes der Besteuerung zugrunde zu legen ist (BFH v. 23.11.2000, IV R 85/99, BStBl II 2001, 122 m. w. N.). Ein nachträgliches Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung muss demgemäß zu einer Änderung des Sachverhalts führen, den die Finanzbehörde bei der Steuerfestsetzung zugrunde gelegt hat, und nicht nur zu einer veränderten rechtlichen Beurteilung des nämlichen Sachverhalts (BFH v. 12.07.2017, I R 86/15, BStBl II 2018, 138). Maßgeblich ist dafür das jeweils einschlägige materielle Recht (BFH v. 19.07.1993, GrS 2/92, BStBl II 1993, 897; BFH v. 14.06.2005, VIII R 14/04, BStBl II 2006, 15; BFH v. 26.06.2014, I B 74/12, BFH/NV 2014, 1497). Zu diesen Normen gehören auch die Vorschriften, welche die zeitliche Geltung bestimmter abgabenrechtlicher Regelungen festlegen. Dabei muss die gesetzgeberische Entscheidung bzgl. der Rückwirkung im Gesetzestext selbst Ausdruck finden; insbes. die gesetzgeberische Rückwirkungsanordnung eindeutig sein (BFH v. 12.07.2017, I R 86/15, BStBl II 2018, 138).

 

Tz. 37

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Aus dem Begriff "eintritt" lässt sich schließen, dass sich der Vorgang nachträglich ereignen muss, d. h. nachdem der Steueranspruch entstanden ist. Der besteuerungsrelevante Sachverhalt, der der ursprünglichen Steuerfestsetzung zugrunde lag, muss sich nach dem für die Kenntnis der Behörde nach § 173 Abs. 1 AO maßgeblichen Zeitpunkt verändert haben (s. § 173 AO Rz. 17 ff.). § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO rechtfertigt die Durchbrechung der Bestandskraft des Steuerbescheids, für den das rückwirkende Ereignis zu berücksichtigen ist. Die Bestandskraft ist allerdings keine Voraussetzung für die Anwendung der Norm. Ist ein betroffener Steuerbescheid wirksam erlassen, aber noch nicht bestandskräftig, kommt § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO gleichwohl zur Anwendung (BFH v. 30.08.2001, IV R 30/99, BStBl II 2002, 49; BFH v. 19.08.2003, VIII R 67/02, BStBl II 2004, 107, BFH v. 13.11.2012, VI R 100/10; Bartone in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1352; von Wedelstädt in Gosch, § 175 AO Rz. 47.2; Rüsken in Klein, § 175 AO Rz. 53; a. A. von Groll in HHSp, § 175 AO Rz. 325). Ein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung kann nach der Rspr. des BFH auch dann vorliegen, wenn der Steuerbescheid, in dem der Vorgang zu berücksichtigen ist, noch nicht ergangen ist (BFH v. 19.04.2005 VIII R 68/04, BStBl II 2005, 762; BFH v. 16.06.2015, IX R 30/14, BStBl II 2017, 94; auch Nieland, AO-StB 2005, 259; krit. Loose in Tipke/Kruse, § 175 AO Rz. 23).

 

Tz. 38

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Erst nachträglich, also nach dem Wirksamwerden des ursprünglichen Steuerbescheids (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO), tritt ein Ereignis ein, das infolge der für dieses Ereignis angeordneten steuerlichen Rückwirkung die materielle Richtigkeit des ursprünglichen Bescheides beseitigt (s. BFH v. 10.07.2002, I R 69/00, BFH/NV 2002, 1545 m. w. N.). Nicht nachträglich i. S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein Ereignis, das während des Einspruchsverfahrens eintritt und von der Finanzbehörde in der Einspruchsentscheidung berücksichtigt wird (BFH v. 13.05.2005, VIII B 205/03; BFH/NV 2005, 1741). Nach von Wedelstädt (in Gosch, § 175 AO, Rz. 47; Bartone in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1354) ist bei der Frage der Nachträglichkeit gem. § 173 Abs. 1 AO auf den Zeitpunkt der abschließenden Willensbildung über die Steuerfestsetzung abzustellen, weil die Finanzbehörde danach keinen Einfluss auf die Steuerfestsetzung mehr hat. Daher kann in der neuen Situation – ebenso wie bei der Änderung des § 173 Abs. 1 AO – der neuen Kenntnislage nicht mehr Rechnung getragen werden. Im Gegensatz zu § 173 AO, der verlangt, dass die Tatsache bei Erlass des Steuerbescheids bereits vorhanden, aber nicht bekannt war, setzt § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO voraus, dass das Ereignis nachträglich eingetreten und bekannt geworden ist (BFH v. 19.07.1993, GrS 2/92, BStBl II 1993, 897; BFH v. 19.04.2005, VIII R 68/04, BStBl II 2005, 762; BFH v. 25.02.2009, IX R 95/07, BFH/NV 2009, 1393 m. w. N.).

3. Einzelfälle

a) Laufend veranlagte Steuern

 

Tz. 39

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Bei laufend veranlagten Steuern – wie der ESt – sind die aufgrund des Eintritts neuer Ereignisse materi...

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