Tz. 15

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Steuer kann bei Vorliegen der Voraussetzungen vorläufig festgesetzt werden, gleichgültig, ob in einem erstmaligen oder in einem Änderungsbescheid. Es steht im Ermessen der Finanzbehörde, ob und inwieweit sie eine Steuer vorläufig festsetzt. In den Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, 2a und 3 AO ist der Ermessensspielraum bis auf Null eingeschränkt, sofern es sich um ein Musterverfahren handelt, das nicht bereits von vornherein aussichtslos erscheint. Sie hat im Einzelfall abzuwägen, ob sie eine Steuer vorläufig festsetzt, von der Steuerfestsetzung vorläufig absieht oder die Steuer im Schätzungswege (§ 162 AO) festsetzt. Dies hängt vom Umfang der Ungewissheit und ggf. auch von der abzuschätzenden Unmöglichkeit ab, die Ungewissheit zu beseitigen. Zur Ermessensentscheidung gehört auch, ob die Steuer unter Einbeziehung des ungewissen Vorganges oder unter Wegdenken desselben vorläufig festzusetzen ist (h. M., BFH v. 22.12.1987, IV B 174/86, BStBl II 1988, 234; BFH v. 27.11.2007, IV R 17/06, HFR 2009, 771 m. w. N.). Letztlich hängt es vom Grad der Wahrscheinlichkeit ab, dass der Vorgang eingetreten ist, ob er mit einbezogen werden soll oder nicht (Heuermann in HHSp, § 165 AO Rz. 21; Seer in Tipke/Kruse, § 165 AO Rz. 25; von Wedelstädt, AO-StB 2007, 297 m. w. N.). Zu berücksichtigen sind dabei auch etwaige Zinsvorteile (§ 233a AO) des Stpfl. und die Gefährdung der späteren Steuererhebung, weil Sicherheitsleistung nur verlangt werden kann, wenn die Steuerfestsetzung ausgesetzt wird (u. a. Seer in Tipke/Kruse, § 165 AO Rz. 25; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 615).Im Übrigen braucht die Finanzbehörde, wenn sie eine Besteuerungsgrundlage vorläufig anerkennt, nachrangige Fragen nicht abschließend zu prüfen, bei denen offen ist, ob sie bei einer endgültigen Steuerfestsetzung überhaupt steuererheblich sind, die sich ggf. bei einer endgültigen Aberkennung nicht stellen und daher keinen Ermittlungs- und Prüfungsbedarf zeitigen würden. Sie kann daher die Vorläufigkeit auf alle Besteuerungsfolgen ausdehnen, die noch in einem Zusammenhang mit der Ungewissheit stehen. Denn es ist sachgerecht, nachrangige Ermittlungen zurückzustellen, solange noch nicht feststeht, dass den betreffenden Besteuerungsgrundlagen überhaupt Bedeutung zukommt. In diesem Umfang kann das FA nachrangige Fehlbeurteilungen des Stpfl. vorläufig hinnehmen; dies gilt unabhängig davon, ob die betreffenden Besteuerungsgrundlagen mit Ungewissheiten behaftet waren oder nicht (BFH v. 22.12.1987, IV B 174/86, BStBl. II 1988, 234; BFH v. 27.11.1996, X R 20/95, BStBl II 1997, 791 m. w. N.; Seer in Tipke/Kruse, § 165 AO Rz. 34 m. w. N.; Oellerich in Gosch, § 165 AO Rz 93; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 617). Setzt das FA z. B. die Steuern vorläufig fest, weil ungewiss ist, ob der Stpfl. mit Einkünfteerzielungsabsicht handelt, kann es bei Berücksichtigung der betreffenden Einkünfte die rechtlichen Fehlbeurteilungen des Stpfl. zur Abzugsfähigkeit von Betriebsausgaben bei diesen Einkünften bis zur Beseitigung der Ungewissheit hinnehmen. Stehen Besteuerungsgrundlagen dagegen nicht in einer derartigen Abhängigkeit zur ungewissen Besteuerungsgrundlage, sondern sind sie einem anderen Besteuerungsmerkmal zuzuordnen, das keinen sachlichen Bezug zum Gegenstand der Ungewissheit hat, gilt dies nicht (BFH v. 27.11.1996, X R 20/95, BStBl II 1997, 791 m. w. N.; BFH v. 26.02.2004, XI R 50/03, BFH/NV 2004, 1064 m. w. N.; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 618). Wird z. B. die Steuer hinsichtlich der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 EStG) vorläufig festgesetzt, erstreckt sich die Vorläufigkeit nicht auf die Frage, ob der Stpfl. zum Abzug von Sonderausgaben mit oder ohne Kürzung des Vorwegabzugs berechtigt ist, oder auf die Frage, ob der Kürzung des Vorwegabzugs (auch) nicht sozialversicherungspflichtiger Arbeitslohn zugrunde zu legen ist, oder wie dies im Rahmen der Höchstbetragsregelung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 EStG zu geschehen hat.

 

Tz. 15a

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Eine nachträgliche Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks in einen bestandskräftigen endgültigen Steuerbescheid ist nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für eine Änderung erfüllt sind; das gilt auch nach Erledigung des Rechtsstreits über den Steuerbescheid in der Hauptsache, da mit der Erklärung über die Erledigung die Steuerfestsetzung unanfechtbar wird (BFH v. 14.05.2003, XI R 21/02, BStBl II 2003, 888; Rüsken in Klein, § 165 AO Rz. 31a). Unproblematisch ist die nachträgliche Aufnahme des Vorläufigkeitsvermerks bei Steuerfestsetzungen unter Vorbehalt der Nachprüfung, nicht einschlägig sind die Regelungen der § 173 Abs. 1 AO und § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Ein Steuerbescheid kann daher durch Bescheid nachträglich mit Zustimmung des Stpfl. nach § 172 Abs. 1 Nr. 2a AO für vorläufig erklärt werden; kommt jedoch nach Wegfall der Ungewissheit lediglich eine Änderung zugunsten des Stpfl. infrage, ist dies...

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