Tz. 11a

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Im Einzelnen umfasst die Vorschrift des § 176 AO folgende Vertrauenstatbestände:

I. Nichtigkeit eines Gesetzes (§ 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO)

 

Tz. 12

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Stellt das BVerfG die Nichtigkeit eines förmlichen Parlamentsgesetzes fest, auf dem die bisherige Steuerfestsetzung beruht, so darf der Spruch des BVerfG, dem gem. § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG Wirkungen nur in Bezug auf noch anfechtbare Entscheidungen verliehen sind, nach § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO bei der Aufhebung oder Änderung des bisherigen Bescheids nicht zuungunsten des Stpfl. berücksichtigt werden (zuletzt BFH v. 23.04.2010, V B 89/09, BFH/NV 2010, 1782). Die Berücksichtigung zugunsten des Stpfl. ist dadurch beschränkt, dass sie grundsätzlich nur im Rahmen des § 177 AO in Form der Saldierung zulässig ist. Daneben kann eine freie Abänderbarkeit nach den §§ 164 Abs. 2, 165 Abs. 2, 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO eröffnet sein. Für die Anwendung des § 177 AO ist zu berücksichtigen, dass die Anwendung eines nach Erlass eines Verwaltungsakts für nichtig erklärten Gesetzes kein Rechtsfehler ist, soweit die Anwendung dieses Gesetzes zugunsten des Stpfl. wirkt (Loose in Tipke/Kruse, § 176 AO Rz. 10). Sofern ein solcher Verwaltungsakt korrigiert wird, wird dabei zugunsten des Stpfl. die zwischenzeitliche Nichtigkeitserklärung des Gesetzes nicht beachtet (Loose in Tipke/Kruse, § 176 AO Rz. 10). Beruht also auf dem für nichtig erklärten Gesetz die zu ändernde Steuerfestsetzung, muss die Steuerfestsetzung nicht im vollen Umfang vom Gesetz getragen werden, es ist vielmehr ausreichend, dass eine der Besteuerungsgrundlagen bei der bisherigen Steuerfestsetzung begünstigend für den Stpfl. angewendet worden ist (von Wedelstädt, AO-StB 2010, 303).

 

Tz. 13

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

§ 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist entsprechend anzuwenden, wenn das BVerfG ein Gesetz für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, da auch ein solches Gesetz grds. nicht mehr angewendet werden darf. Erklärt das BVerfG jedoch die vorübergehende Weiteranwendung der Norm, bedarf es einer Anwendung des § 176 AO nicht: Das Gesetz gilt zugunsten des Stpfl. weiter, zu seinen Ungunsten ist eine Berufung auf § 176 AO nicht möglich (s. Rz. 3, 7; Koenig in Koenig, § 176 AO Rz. 15).

 

Tz. 14

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Gesetz i. S. des § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist das förmliche nachkonstitutionelle Gesetz, nicht das Gesetz i. S. des § 4 AO. Dies ist zum einen Art. 100 Abs. 1 GG zu entnehmen, zum anderen der Vorschrift des § 176 AO selber, die zwischen "Gesetz" in § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO und "Norm" in § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO unterscheidet (von Wedelstädt in Gosch, § 176 AO Rz. 21).

 

Tz. 15

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Erklärt der EuGH, der in verfassungsrechtlicher Hinsicht "gesetzlicher Richter" i. S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sein kann (vgl. z. B. BVerfG v. 19.12.2017, 2 BvR 424/17, NJW 2018, 686), ein Gesetz für mit dem Unionsrecht unvereinbar, so ist § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ebenfalls entsprechend anzuwenden (Bartone in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1569; Koenig in Koenig, § 176 AO Rz. 16; Rüsken in Klein, § 176 AO Rz. 11; a. A. von Wedelstädt in Gosch, § 176 AO Rz. 20; von Groll in HHSp, § 176 AO Rz. 151; Loose in Tipke/Kruse, § 176 AO Rz. 13).

II. Beurteilung einer Norm als verfassungswidrig (§ 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO)

 

Tz. 16

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Die Ausführungen zu § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO gelten entsprechend, wenn ein oberster Gerichtshof des Bundes eine Rechtsnorm, auf der die bisherige Steuerfestsetzung beruht, für verfassungswidrig hält (und sei es auch wegen fehlender Ermächtigungsgrundlage) und deswegen nicht anwendet (§ 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO). Diese Norm gilt nicht für förmliche nachkonstitutionelle Bundesgesetze, da insoweit – wie sich aus Art. 100 Abs. 1 GG ergibt – das Verwerfungsmonopol ausschließlich beim BVerfG liegt (s. Rz. 12 f.). Denn im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3, 100 Abs. 1 GG ist kein Gericht befugt, ein förmliches nachkonstitutionelles Bundesgesetz wegen erkannter oder vermeintlicher Verfassungswidrigkeit unangewendet zu lassen. Vielmehr sind die Gerichte in diesem Fall verpflichtet, eine Vorlage gem. Art. 100 Abs. 1 GG an das BVerfG zu machen. Oberste Gerichtshöfe des Bundes sind, neben dem BFH, das BVerwG, der BGH, das BSG und das BAG (Art. 95 Abs. 1 GG) sowie der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (Art. 95 Abs. 3 GG), nicht aber der EuGH (ebenso Loose in Tipke/Kruse, § 176 AO Rz. 13; von Wedelstädt in Gosch, § 176 AO Rz. 24). Allerdings ist § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO auf Entscheidungen des EuGH entsprechend anwendbar (vgl. Bartone in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1570; Koenig in Koenig, § 176 AO Rz. 21; a. A. Loose in Tipke/Kruse, § 176 AO Rz. 13; von Wedelstädt in Gosch, § 176 AO Rz. 24). Rechtsnormen i. S. des § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sind im Hinblick auf das Verwerfungsmonopol des BVerfG v. a. Rechtsnormen unterhalb des Ranges des förmlichen Gesetzes wie Rechtsverordnungen des Bundes (Art. 80 Abs. 1 GG) oder eines Landes und Satzungen (von Wedelstädt in Gosch, § 176 AO Rz. 25). Erfass...

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