Tz. 3

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Der Anwendungsbereich des § 110 AO erstreckt sich nach § 110 Abs. 1 Satz 1 AO auf alle gesetzlichen Fristen, die für Handlungen gesetzt sind, über die Finanzbehörden zu befinden haben. Dazu gehören vor allem die für außergerichtliche Rechtsbehelfe geltenden Rechtsbehelfsfristen (§ 355 Abs. 1 AO). Antragsfristen aller Art fallen unabhängig davon unter die Vorschrift, ob es sich um rechtsbehelfsähnliche Anträge handelt. Nicht maßgebend ist, ob die Frist in der AO oder in anderen Gesetzen enthalten ist. Gesetzliche Fristen, die keine Handlungsfristen sind, können nicht i. S. von § 110 Abs. 1 Satz 1 AO "eingehalten" und daher auch nicht "ohne Verschulden versäumt" werden. So fällt auch der in § 110 Abs. 2 AO befristete Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die befristete Nachholung der versäumten Handlung selbst in den Anwendungsbereich des § 110 AO ("Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzung"; s. auch BFH v. 19.08.1992, V B 27/92, BFH/NV 1993, 480). Für von einer Behörde einzuhaltende Fristen gilt § 110 AO nicht (BFH v. 19.08.1999, III R 57/98, BStBl II 2000, 330). Gleiches gilt auch für den Ablauf der für Ansprüche aus den Steuergesetzen geltenden Verjährungsfrist (§ 228 AO) oder der Festsetzungsfrist (§§ 169ff. AO; vgl. BFH v. 12.05.2009, VII R 5/08, BFH/NV 2009, 1602; BFH v. 25.02.2010, IX B 156/09, BFH/NV 2012, 176; BFH v. 24.05.2012, III R 95/08, BFH/NV 2012, 1658).

 

Tz. 4

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Zahlungsfristen sind Tathandlungsfristen spezieller Art, deren Versäumung ohne Rücksicht auf Verschuldensfragen die Konsequenz des § 240 AO (Entstehung der Säumniszuschläge) zur Folge hat; sie fallen nicht in den Anwendungsbereich von § 110 AO. Unbilligkeiten kann nach § 227 AO durch Billigkeitserlass Rechnung getragen werden. In Betracht kommt neben einer Wiedereinsetzung auch die Bewilligung von Stundung (§ 222 AO) oder Zahlungsaufschub (§ 223 AO; Brandis in Tipke/Kruse, § 110 AO Rz. 6). Allgemein kann die Versäumung von Fristen, die die Verwirklichung eines Tatbestands mit der Folge der Entstehung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 38 AO) betreffen (z. B. fristgerechte Errichtung eines Gebäudes i. S. der grunderwerbsteuerrechtlichen Vorschriften) nicht im Wege der Wiedereinsetzung geheilt werden.

 

Tz. 5

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Wenngleich auch die Steuererklärungsfristen gesetzliche Fristen sind (die Verlängerungsmöglichkeit ändert nichts im Grundsätzlichen), sind sie u. E. wegen der besonderen Regelung in § 109 Abs. 1 Satz 2 AO keine wiedereinsetzungsfähigen Fristen (wie hier Mösbauer in K/S, § 110 AO Rz. 6; a. A. Brandis in Tipke/Kruse, § 110 AO Rz. 6). Fristgebundene Anträge innerhalb des Festsetzungsverfahrens können allerdings wiedereinsetzungsfähig sein. So ist z. B. die Ausschlussfrist für die Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ist wiedereinsetzungsfähig (BFH v. 04.11.2004, VI B 104/04, BFH/NV 2005, 326; BFH v. 22.05.2006, VI R 51/04, BStBl II 2006, 833), Gleiches gilt für den Antrag auf Vorsteuervergütung nach § 62 UStDV (BFH v. 18.07.2016, V B 5/16, BFH/NV 2016, 1594) und den Antrag nach § 32d Abs. 2 Nr. 3 Satz 4 EStG (BFH v. 29.08.2017, VIII R 33/15, BStBl II 2018, 69).

 

Tz. 6

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Allgemein kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dann nicht in Frage kommen, wenn das Gesetz nicht eine Frist für ein bestimmtes Handeln (z. B. die Stellung eines Antrags) setzt, sondern die Möglichkeit der materiellen Auswirkung des Handelns durch den Ablauf eines von der Handlungsfrist unabhängigen Zeitraums begrenzt. So ist z. B. nach § 110 Abs. 3 AO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Ablauf eines Jahres seit dem Ende der versäumten Frist ausgeschlossen. Der Ablauf dieser Jahresfrist fällt nicht unter § 110 Abs. 1 AO sodass eine Wiedereinsetzung in diese Frist ausgeschlossen ist. Gleiches gilt z. B. für die Jahresfrist des § 356 Abs. 2 Satz 1 AO, sofern kein Fall sog. höherer Gewalt vorliegt (§ 356 Abs. 2 Satz 2 AO).

 

Tz. 7

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Für Fristen, die nicht gegenüber der Finanzbehörde, sondern gegenüber den Finanzgerichten einzuhalten sind, kann Wiedereinsetzung nach § 110 Abs. 1 AO nicht in Frage kommen. Die Wiedereinsetzung im finanzgerichtlichen Verfahren regelt § 56 FGO.

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