Tz. 1

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Norm, die durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 18.07.2016, BGBI I 2016, 1679, weitgehend neu gestaltet worden ist, ist eine der grundlegenden Normen des Besteuerungsverfahrens. Sie betrifft den Aufgabenkreis der Finanzbehörden und macht Vorgaben für die Art und Weise der Durchführung des Besteuerungsverfahrens. Adressat der Regelungen sind damit ausschließlich die Finanzbehörden. Gegenüber den anderen Beteiligten des Besteuerungsverfahrens eröffnet § 88 AO keine Befugnisse. Die Finanzbehörden können also auf der Grundlage von § 88 AO keine Verwaltungsakte gegenüber den anderen Beteiligten erlassen, auch wenn sie zu Ermittlung des Sachverhalts beitragen sollen. Hierzu müssen sich die Finanzbehörden der einzelnen Befugnisnormen bedienen. Der schon in der Überschrift der Norm erwähnte Untersuchungsgrundsatz bringt zum Ausdruck, dass die Finanzbehörden entsprechend der aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitenden verfassungsrechtlichen Verpflichtung an Gesetz und Recht gebunden sind. Dies erfordert, dass der den Steueranspruch auslösende Sachverhalt ermittelt wird. Daraus folgt, dass die Verwaltung sich weder auf der einen Seite allein auf die Erklärungen des Stpfl. verlassen darf, noch dass sie auf der anderen Seite allein dem fiskalischen Interesse Rechnung tragen darf. Sie ist vielmehr verpflichtet, ihre Tätigkeit an der Ermittlung, Festsetzung und Erhebung des gesetzlich verwirklichten Steuertatbestands und -anspruchs auszurichten. Sie ist im öffentlichen Interesse zur Ermittlung der wahren Besteuerungsgrundlagen, mithin zur Objektivität, verpflichtet. Damit trägt der Untersuchungsgrundsatz der Verwirklichung des weiteren – ebenfalls durch Verfassungsrecht gebotenen – Grundsatzes Rechnung, dass die Steuern in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht gleichmäßig zu erheben sind. Im Besteuerungsverfahren muss die Belastungsgleichheit nicht nur durch verfassungsgemäße steuerrechtliche Regelungen, sondern auch durch die Ausgestaltung des Besteuerungsverfahrens sichergestellt werden. Vollzugsdefizite, auch wenn sie auf Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsermittlung beruhen, können zur Verfassungswidrigkeit des Steuereingriffs führen (BVerfG v. 09.03.2004, 2 BvL 17/02, BStBl II 2005, 56; BVerfG v. 17.12.2014, 1 BvL 21/12, BStBl II 2015, 50; BVerfG v. 24.03.2015, 1 BvR 2880/11, BStBl II 2015, 622). Diesen Anforderungen soll § 88 AO – auch nach der Neufassung – Rechnung tragen (BT-Drs. 18/7457, 67).

 

Tz. 2

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

In der Neufassung der Norm ist – anders als in der Vergangenheit – ein weiterer Grundsatz genannt, der dem Grundsatz eines streng gesetzgebundenen, allein an der Entstehung und Verwirklichung des Steueranspruchs orientierten Gesetzesvollzugs auf den ersten Blick zuwiderläuft. Die Verwaltung hat auch dem Gebot der Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit Rechnung zu tragen. Auch diesem Grundsatz – dem Grundsatz einer effektiven Verwaltung – kommt Verfassungsrang zu (BFH v. 22.10.2014, X R 18/14, BStBl II 2015, 371). Es streiten also in § 88 AO verschiedene – sich widersprechende – Grundsätze miteinander, die es miteinander im Einklang zu bringen gilt, nämlich der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und der Amtsermittlungsgrundsatz auf der einen Seite, die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit auf der anderen Seite. Beides wird ergänzt durch den stets zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das mit zunehmender Automatisierung des Besteuerungsverfahrens immer wichtiger werdende Verifikationsprinzip.

 

Tz. 3

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Diese Widersprüche versucht das Gesetz zu lösen. Abs. 1 und Abs. 2 übernehmen die genannten Grundsätze – ohne sie besonders zu gewichten oder zu konkretisieren – als Handlungsanweisung für die Finanzbehörden. Abs. 3 ermöglicht den Erlass fallgruppenbezogener Verwaltungsanweisungen über Art und Umfang der Ermittlungen; die Regelung dient vor allem der Wirtschaftlichkeit und der Zweckmäßigkeit der Ermittlungen. Abs. 4 betrifft den Verzicht einer Datenweiterleitung durch das BZSt und die zentrale Stelle nach § 81 EStG. Die Regelung dient der Vereinfachung. Abs. 5 soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die Quote der ausschließlich maschinell bearbeiteten Steuererklärungen in Zukunft deutlich steigen soll. Die "automatisierte Steuerveranlagung" führt dem Grunde nach nahezu zwangsläufig dazu, dass keine der in Abs. 1 und Abs. 2 genannten Ermittlungshandlungen personell in die Besteuerung einfließen. Um gleichwohl das "bestmögliche Ergebnis" im Spannungsverhältnis zwischen gesetz- und gleichmäßiger Besteuerung einerseits und zeitnahen und wirtschaftlichen Verwaltungshandelns andererseits zu erreichen, soll mit der Einführung eines Risikomanagements den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Besteuerungsverfahren Rechnung getragen werden.

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