a) Laufend veranlagte Steuern

 

Tz. 39

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Bei laufend veranlagten Steuern – wie der ESt – sind die aufgrund des Eintritts neuer Ereignisse materiellrechtlich erforderlichen steuerlichen Anpassungen regelmäßig nicht rückwirkend, sondern in dem Besteuerungszeitraum vorzunehmen, in dem sich der maßgebende Sachverhalt ändert. So hebt nach dem in § 11 EStG normierten Zufluss-/Abflussprinzip die Rückzahlung eines in einem vorhergehenden Jahr erhaltenen Zuflusses diesen nicht rückwirkend auf, sondern ist als Abfluss in dem Rückzahlungsjahr zu behandeln (Loose in Tipke/Kruse, § 175 AO Rz. 30). § 11 EStG schließt die Anwendung von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO grundsätzlich aus. Eine Rückwirkung kann jedoch angenommen werden bei punktuell einmaligen Ereignissen, wie dies bei der Veräußerung des Betriebs oder Teilbetriebs, bei der Betriebsaufgabe usw. der Fall ist (BFH v. 19.07.1993, GrS 2/92, BStBl II 1993, 897; s. Rz. 42). Auch die Erstattung von Sonderausgaben ist ein rückwirkendes Ereignis i. S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (aber zur Erstattung von KiSt s. Rz. 44; Ortheil, DB 2005, 466; Ballof, AO-StB 2005, 223; Hütt, AO-StB 2005, 232; Endriss, DStR 2005, 1171).

b) Anträge und Wahlrechte

 

Tz. 40

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Erstmalig gestellte oder ausgeübte Anträge oder Wahlrechte sind grds. keine rückwirkenden Ereignisse i. S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, sondern Verfahrenshandlungen (ausführlich von Wedelstädt, AO-StB 2012, 150, 153 m. w. N.). Für die anderweitige Ausübung der Pauschalierungswahlrechte nach § 37b Abs. 1 Satz 1 EStG und nach § 37b Abs. 2 Satz 1 EStG hat der BFH die Anwendung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO bejaht (BFH v. 15.06.2016, VI R 54/15, BStBl II 2016, 1010). Steuerliche Rückwirkung kann einem Antrag zukommen, wenn er selber Teil des gesetzlichen Tatbestands des Steueranspruchs ist und somit unmittelbar rechtsgestaltend wirkt (von Wedelstädt in Gosch, § 175 AO Rz. 50 m. w. N.). So stellt der (vor Eintritt der Bestandskraft gestellte) Antrag des einen Ehegatten auf getrennte Veranlagung hinsichtlich des gegenüber dem anderen Ehegatten ergangenen (bestandskräftigen) Zusammenveranlagungsbescheids ein rückwirkendes Ereignis dar (z. B. BFH v. 03.03.2005, III R 22/02, BStBl II 2005, 690; BFH v. 28.07.2005, III R 48/03, BStBl II 2005, 865; BFH v. 15.12.2005, III R 49/05, BFH/NV 2006, 933; Rüsken in Klein, § 175 AO Rz. 73; AEAO zu § 175, Nr. 2.4§§ 26 bis 26b EStG; hierzu Nieland, AO-StB 2005, 263). Dies gilt indessen nicht, wenn beide Ehegatten für den betreffenden Veranlagungszeitraum bereits bestandskräftig zur Einkommensteuer veranlagt sind (BFH v. 25.09.2014, III R 5/13, BFH/NV 2015, 811). Dies gilt entsprechend für einen erweiterten Antrag auf Abzug von Unterhaltsleistungen im Wege des Realsplittings nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG: Grds. wirkt dieser zurück (BFH v. 28.06.2006, XI R 32/05, BStBl II 2007, 5), allerdings nicht, wenn der Antrag erst nach Eintritt der Bestandskraft gestellt wird (BFH v. 20.08.2014, X R 33/12, BStBl II 2015, 138). Nach dem BFH soll § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO analog angewandt werden, wenn ein Wahlrecht nach Bekanntgabe, aber vor Eintritt der Bestandskraft des Steuerbescheids ausgeübt wird (z. B. BFH v. 19.05.2004, III R 18/02, BStBl II 2004, 980; BFH v. 09.12.2015, X R 56/13, BStBl II 2016, 967, a. A. von Wedelstädt in Gosch § 175 AO Rz. 50.1; von Wedelstädt, AO-StB 2012, 150, 154 m. w. N.; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 83). Im Übrigen s. Vor §§ 172–177 AO Rz. 15 ff.

c) Zivilrechtliche Rückbeziehung

 

Tz. 41

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Grds. entfaltet die zivilrechtlich vereinbarte Rückwirkung eines Vertrages keine steuerrechtlichen Wirkungen. Der einmal entstandene Steueranspruch ist den Parteien entzogen und kann nicht durch zivilrechtlich rückwirkende Vereinbarung wieder beseitigt werden. Steht der steuerlich relevante Sachverhalt unter einer auflösenden Bedingung, so enden die von ihm ausgelösten Wirkungen mit dem Eintritt der Bedingung (§ 158 Abs. 2 BGB). Aufgrund dieser zivilrechtlichen Wirkung erfüllt der Eintritt einer auflösenden Bedingung nur dann die Voraussetzungen von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, wenn der Bedingungseintritt in Abweichung vom Zivilrecht steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Ob dies der Fall ist, muss im Einzelfall nach den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen geprüft werden. Die Besteuerung passt sich in diesen Fällen der Sachverhaltsänderung rückwirkend an, indem die Steuer so festgesetzt wird, wie sie festzusetzen gewesen wäre, wenn der Tatbestand von vornherein die Gestaltung aufgewiesen hätte, die er durch das eingetretene Ereignis nachträglich erfahren hat.

 

Tz. 42

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Als Hauptanwendungsbereich des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO gilt der Veräußerungsgewinn aus der Übertragung eines Mitunternehmeranteils, der mit der Übertragung als realisiert gilt. Eine spätere vergleichsweise Festlegung eines bisher strittigen Abfindungsanspruchs ist ein Ereignis mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit (BFH v. 19.07.1993, GrS 1/92, BStB...

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