Rz. 16

Das BMF hat in einem Bericht an den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages v. 30.10.2007 zur Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes[1] die Auffassung vertreten, dass wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen vielfach zu einer anderen Einschätzung der überwiegend im Jahr 1968 beschlossenen umsatzsteuerlichen Vergünstigungen geführt hätten. Die Regelungen seien dem Bürger gegenüber teilweise nicht mehr vermittelbar. Die Abschaffung bestimmter Steuervergünstigungen gefährde nicht die soziale Balance. Nur wenige Ermäßigungen der USt, wie die niedrige Besteuerung von Lebensmitteln, dienten der steuerlichen Schonung des soziokulturellen Existenzminimums. Gleichwohl sah das BMF in seinem Bericht v. 30.10.2007 keinen Handlungsbedarf für eine grundsätzliche Überarbeitung der Umsatzsteuerermäßigungen. Aufgrund des Gemeinschaftsrechts sowie wirtschafts- und finanzpolitischer Erwägungen ließen sich Forderungen nach einem größeren Geltungsbereich des ermäßigten Steuersatzes nicht erfüllen (§ 12 Abs. 2 UStG Rz. 30ff.). Die von Herbst 2009 bis Herbst 2013 amtierende Bundesregierung sah jedoch zunächst – ebenso wie der Bundesrat – Handlungsbedarf beim ermäßigten Steuersatz allgemein und insbesondere wohl auch bei den begünstigten Gegenständen der Anlage 2 des UStG. Dementsprechend hatte diese Bundesregierung Anfang des Jahres 2011 eine Kommission mit Politikern aus den Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP eingesetzt, die Vorschläge für eine Überarbeitung der Steuerermäßigungen in § 12 Abs. 2 UStG und damit auch Änderungen der Liste der dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Gegenstände unterbreiten sollte. Weil diese Kommission ihre Arbeit letztlich gar nicht erst aufgenommen hat, ist es in der 17. Legislaturperiode nicht zu einer generellen Neuregelung der USt-Ermäßigungen gekommen (§ 12 Abs. 2 UStG Rz. 38). Auch die nachfolgende Bundesregierung nahm für die 18. Legislaturperiode keinen neuen Anlauf für grundlegende Änderungen der Steuerermäßigungen in der Anlage 2 des UStG, nicht zuletzt, weil dies der Koalitionsvertrag vom November 2013 zwischen CDU/CSU und SPD nicht vorsah. Die von Frühjahr des Jahres 2018 bis Dezember 2021 amtierende Bundesregierung (erneute sog. große Koalition aus CDU/CSU und SPD) hatte in ihrem Koalitionsvertrag keinerlei Aussagen zu Änderungen bei den Steuerermäßigungen allgemein und im Besonderen zu Änderungen bei der Liste der dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Gegenstände getroffen. Punktuell sind mWv 1.1.2020 lediglich Menstruationsartikel wie Damenbinden, Tampons, Menstruationstassen und -schwämmchen (neue Nr. 55 der Anlage 2 des UStG), Bahnfahrten im Fernverkehr (Änderung des § 12 Abs. 2 Nr. 10 UStG) sowie elektronische Publikationen wie E-Books und E-Paper (neue Nr. 14 in § 12 Abs. 2 UStG) in die Steuerermäßigung einbezogen worden. Ansonsten sind auch in der 19. Legislaturperiode keine weiteren größeren Änderungen der Anlage 2 des UStG vorgenommen worden (§ 12 Abs. 2 UStG Rz. 39).

 

Rz. 16a

Durch die Richtlinie (EU) 2022/542 des Rates v. 5.4.2022 zur Änderung der Richtlinien 2006/112/EG und (EU) 2020/285 in Bezug auf die Mehrwertsteuersätze[2] ist das Unionsrecht mWv 6.4.2022 hinsichtlich der Anwendung ermäßigter Steuersätze umfassend neu gefasst worden. Anhang III MwStSystRL mit den Gegenständen und Dienstleistungen, die für die Anwendung ermäßigter Steuersätze infrage kommen, ist grundlegend überarbeitet und ergänzt worden (§ 12 UStG Rz. 91 und 106i ff.). Deutschland hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, ab 1.1.2023 unbefristet einen sog. Nullsteuersatz auf die Lieferungen, innergemeinschaftlicher Erwerbe, Einfuhren und Installationen von Fotovoltaikanlagen und deren Komponenten (inklusive Stromspeicher) anzuwenden. Diese Maßnahme wurde jedoch nicht durch Änderung der Anlage 2 des UStG, sondern durch Anfügung eines neuen Abs. 3 in § 12 UStG getroffen (vgl. im Einzelnen § 12 Abs. 3 UStG Rz. 1ff.).

Außerdem hat Deutschland entsprechend der Möglichkeit in der neuen Nr. 22 des Anhangs III MwStSystRL befristet für den Zeitraum vom 1.10.2022 bis 31.3.2024 die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes von 7 % auf die Lieferungen von Gas über das Erdgasnetz und von Fernwärme zugebilligt.[3] Diese Maßnahme erfolgte ebenfalls nicht durch Ergänzung der Anlage 2 des UStG, sondern durch Anfügung neuer Absätze 5 und 6 in § 28 UStG (zeitlich begrenzte Fassungen einzelner Gesetzesvorschriften).

 

Rz. 16b

Schon kurze Zeit nach Herausgabe der EU-Richtlinie v. 5.4.2022 (Rz. 16a) hatte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung mit dem Titel "Neue Handlungsspielräume bei Umsatzsteuersätzen" gerichtet (§ 12 UStG Rz. 106m). In der Vorbemerkung auf ihre Antwort v. 15.7.2022 wies die Bundesregierung zunächst darauf hin, dass die "überarbeiteten" Grundlagen für die Anwendungen ermäßigter MwSt-Sätze grundsätzlich keine Umsetzungsverpflichtung der EU-Mitgliedstaaten auslöse. Eine umfassend angelegte Reform der USt-Sätze erfordere einen breiten gesellschaftlich...

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