Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeld für einen Zeitraum, der mehr als sechs Monate vor Beginn des Monats liegt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein in einem EU-Mitgliedsstaat gestellter Antrag auf Kindergeld zu einem Zeitpunkt (z.B. bei Geburt des Kindes), als für keinen Elternteil ein Anknüpfungspunkt für Kindergeld bzw. Familienleistungen in Deutschland bestand, ist kein Antrag bei der zuständigen Familienkasse im Sinne der §§ 66 Abs. 3, 67 EStG. Hier besteht für die Behörde des EU-Mitgliedsstaates auch keine Veranlassung zur Weiterleitung.

2. Die Vorschrift des § 66 Abs. 3 EStG betrifft das Festsetzungsverfahren und nicht das Erhebungsverfahren.

 

Normenkette

EStG § 66 Abs. 3

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 09.09.2020; Aktenzeichen III R 37/19)

 

Tatbestand

Streitig ist die Festsetzung von Kindergeld für das Kind K für die Zeit von April 2017 bis Juli 2017.

Die Klägerin ist rumänische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Rumänien, die im Jahr 2017 in Deutschland arbeitete und hierbei steuerpflichtigen Arbeitslohn bezog. In der Beschäftigungszeit wohnte die Klägerin auf dem E-Hof in P.

Die Klägerin beantragte mit Antrag auf Kindergeld vom 26.02.2018 bei der X Kindergeld für das in Rumänien lebende Kind K für die Jahre 2016 und 2017.

Sie teilte mit, für das Kind in Rumänien Kindergeld seit dessen Geburt zu erhalten und dass sich die Großmutter um das Kind kümmere. Ein Vater des Kindes wurde nicht angegeben.

Die Klägerin legte eine Arbeitgeberbescheinigung des E in P vom 11.02.2018 vor, wonach sie in dem Betrieb vom 24.04.2017 bis 30.11.2017 beschäftigt war. Weiter legte sie einen Ausdruck der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung für den Zeitraum vom 24.04.2017 bis 30.11.2017, ihren Einkommensteuerbescheid für 2017 des Finanzamts vom 22.06.2018 mit der Erläuterung, dass eine Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG durchgeführt wurde, eine Geburtsbescheinigung des Kindes und den Antrag E 411, der von der rumänischen Familienkasse (Agentia Judeteana Pentru Plati Si Inspectie Socialia) am 20.02.2018 abgezeichnet ist, vor.

Die X setzte mit Bescheid vom 31.08.2018 zugunsten der Klägerin Kindergeld für die Zeit von August 2017 bis November 2017 fest. Außerdem wurde der Klägerin mitgeteilt:

„Auf Grund der gesetzlichen Änderung nach § 66 Abs. 3 EStG können Anträge, die nach dem 31. Dezember 2017 eingehen, rückwirkend nur noch zu einer Nachzahlung für die letzten sechs Kalendermonate vor dem Eingang des Antrages bei der Familienkasse führen. Aus diesem Grunde wird auf eine Festsetzung des Kindergeldes für die Zeit vor dem Monat August 2017 verzichtet, weil für diese Zeit ohnehin keine Auszahlung des Kindergeldes erfolgen könnte.“

Den Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 10.01.2019 als unbegründet zurück.

Der Prozessbevollmächtigte hat für die Klägerin Klage erhoben und zur Begründung im Wesentlichen vorgetragen:

Der angefochtene Bescheid widerspräche der Weisungslage des Bundeszentralamtes für Steuern und würde den Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung verletzen. Die Familienkassen hätten in Hunderten von Fällen, in denen der § 66 Abs. 3 EStG zum Tragen komme, immer das Kindergeld auch für Zeiträume, die länger als sechs Monate vor Antragstellung lägen, festgesetzt und auf die Auszahlungsbeschränkung hingewiesen. Hierzu lägen dem Bundesfinanzhof auch Revisionsverfahren vor (Az.: III R 70/18, III R 66/18).

Im Streitfall könne die Familienkasse die Festsetzung ohne weitere Sachverhaltsklärung durchführen, da ihr alle entscheidungsrelevanten Unterlagen vorlägen. Für das Jahr 2017 habe der Arbeitgeber den Beschäftigungszeitraum 24.04.2017 - 30.11.2017 bestätigt. Aus dem Einkommensteuerbescheid für 2017 ergebe sich, dass das Finanzamt die Klägerin auf Antrag mit unbeschränkter Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG veranlagt habe. Die Voraussetzungen für die Festsetzung von Kindergeld seien für 6 Monate des Jahres 2017 sämtlich erfüllt. Die Handhabung der Familienkasse im Streitfall widerspreche damit der für sie bindenden Weisungslage und verletze den Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung. Mit der Zurückweisung des Einspruches als unbegründet und nicht als unzulässig gehe die Beklagte davon aus, dass der Zeitraum vor August 2017 geregelt und damit abgelehnt sei.

Zudem bestünden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des § 66 Abs. 3 EStG und deren Vereinbarkeit mit Europarecht. Die Norm führe zu einer mittelbaren Diskriminierung von Angehörigen anderer EU-Mitgliedsstaaten. Bekanntlich fehlten den meisten ausländischen Antragsstellern - so auch der Klägerin – ausreichende Rechts- und Sprachkenntnisse, um ihre Ansprüche (erstmals) fristgerecht geltend machen zu können. Bei Saisonarbeitskräften werde dies noch dadurch erschwert, dass diese sich nicht dauerhaft im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhielten. Das scheinbar „neutrale" Kriterium der Auszahlung in Abhängigkeit des Antragseingangs führe hier im Ergebnis dazu, dass überwiegend EU-Ausländer von der (aber...

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