Beteiligte

…,Klägerin, Revisionsklägerinund Revisionsbeklagte

…,Beklagte, Revisionsbeklagteund Revisionsklägerin

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I.

Streitig ist, inwieweit die Beklagte einen Kürzungsbescheid zurücknehmen muß oder im Ermessenswege zurücknehmen kann und wie sie gegebenenfalls das Ermessen auszuüben hat.

Die Klägerin nahm vom 1. Dezember 1981 bis Ende Mai 1984 an einer Umschulung zur Funkelektronikerin teil. Hierfür bewilligte ihr die Beklagte Unterhaltsgeld (Uhg) in Höhe von 80 % des um die gesetzlichen Abzüge verminderten Arbeitsentgelts. Der Bescheid war mit dem Zusatz versehen, die Bewilligung erfolge unter dem Vorbehalt der Anpassung der Leistungen an das ab 1. Januar 1982 geltende Recht. Mit Bescheid vom 30. Dezember 1981 setzte die Beklagte das Uhg ab 1. Januar 1982 auf 68 vH des maßgeblichen Bemessungsentgelts gemäß § 44 Abs 2 Satz 1 Nr 2 AFG in der ab 1. Januar 1982 geltenden Fassung des Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung (AFKG) vom 22. Dezember 1981 (BGBl I S 1497) herab.

Am 27. Februar 1984 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Oktober 1983 (SozR 4150 Art 1 § 2 Nr 1) die Rücknahme des Kürzungsbescheides. Die Beklagte entsprach dem nicht; in dem Bescheid vom 16. März 1984 setzte sie das Uhg nur mit Wirkung vom 2. April 1984 neu fest. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19. April 1984). Nach Auffassung der Widerspruchsstelle ist nach den §§ 152 Abs 1 AFG, 48 Abs 2 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) die Aufhebung des Kürzungsbescheides für die Vergangenheit ausgeschlossen; unbeschadet dessen sei jedoch zu prüfen, ob er gemäß § 44 Abs 2 SGB X auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden könne (Ermessensentscheidung). Nach den bekannten Fakten sei eine Rücknahme nicht möglich, was heiße, daß ein Ermessensfehlgebrauch des Arbeitsamtes nicht feststellbar sei. Nach Klageerhebung beseitigte die Beklagte die Folgen des Kürzungsbescheides rückwirkend zum 27. Februar 1984 (Rücknahmeantrag).

Das Sozialgericht (SG) Speyer hat mit Urteil vom 24. September 1985 die Beklagte unter Abänderung ihrer Bescheide verurteilt, den Kürzungsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit vollständig zurückzunehmen, weil das ihr insoweit eingeräumte Ermessen in diesem Sinne auf Null reduziert sei. Auf die zugelassene Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 4. Juli 1986 die Beklagte statt dessen zur erneuten Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt, § 152 Abs 1 AFG stehe, wie aus dem systematischen Zusammenhang dieser Norm zu § 44 SGB X und der aus der amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs zu entnehmenden Absicht des Gesetzgebers folge, einer rückwirkenden Korrektur rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte nach pflichtgemäßem Ermessen nicht entgegen. Eine solche Ermessensentscheidung habe die Beklagte nicht getroffen. Es fehle die erforderliche Abwägung der Interessen der Klägerin mit den Belangen der öffentlichen Verwaltung. Eine Ermessensreduzierung auf Null sei jedoch nicht eingetreten, es kämen noch verschiedene ermessensfehlerfreie Entscheidungen insbesondere für den Zeitpunkt der Rücknahme des Kürzungsbescheides in Betracht.

Gegen das Urteil haben die Klägerin und die Beklagte die vom LSG zugelassene Revision eingelegt.

Die Beklagte rügt Verletzung des § 152 Abs 1 AFG und des § 44 SGB X. Dabei vertritt sie wieder die Auffassung, daß es für sie keine gesetzliche Möglichkeit gebe, rechtswidrige, nicht begünstigende Verwaltungsakte über Sozialleistungen mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Die Beklagte beantragt,die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Sie rügt Verletzung der §§ 44 Abs 2 Satz 2, 48 Abs 2 SGB X sowie des § 152 Abs 1 AFG. Die in der letzteren Vorschrift begründete Rücknahmepflicht für die Zukunft gebiete die Rücknahme für die Zeit nach der Verkündung des BSG-Urteils vom 20. Oktober 1983, weil mit diesem Zeitpunkt die "Zukunft" begonnen habe. Für die vorangehende Zeit gebe es für die Beklagte keine Erwägungen mehr, auf die sie eine der Klägerin ungünstige Ermessensentscheidung stützen könne. Da es sich um einen in ihren Verantwortungsbereich fallenden Rechtsanwendungsfehler handele, der sich mit erheblichem Nutzen für sie unter geringem Verwaltungsaufwand korrigieren lasse, sei das Ermessen praktisch auf Null geschrumpft.

Beide Beteiligten beantragen außerdem,

die Revision der Gegenseite zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revisionen sind nicht begründet.

Die Beklagte hat ihrer Verpflichtung aus § 152 Abs 1 AFG, den rechtswidrigen Kürzungsbescheid "für die Zukunft" zurückzunehmen entsprochen. Die Revision meint zu Unrecht, im Falle einer nachträglichen anderen Rechtsauslegung durch die Rechtsprechung beginne die Zukunft im Sinne dieser Vorschrift mit dieser Rechtsprechung. Das SGB X unterscheidet in den §§ 44 ff wiederholt zwischen Aufhebungen (Rücknahme, Widerruf) mit Wirkung für die Zukunft und denen mit Wirkung für die Vergangenheit (ebenso §§ 48, 49 Verwaltungsverfahrensgesetz). In diesen Vorschriften ist die Bekanntgabe des Aufhebungsbescheides der Zeitpunkt, der Vergangenheit und Zukunft trennt. Dementsprechend hat bereits der 7. Senat (Urteil vom 9. September 1986 - 7 RAr 47/85 -, zur Veröffentlichung vorgesehen) den Beginn der Zukunft in § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X auf den Tag der Zustellung des Aufhebungsbescheides gelegt. Daß die Zukunft nicht früher beginnt, bestätigt § 48 Abs 1 SGB X ferner mit der Unterscheidung zwischen der Aufhebung für die Zukunft und der Aufhebung mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an. Es entspricht somit der Gesetzessystematik, daß in § 152 Abs 1 AFG Zukunft ebenfalls nur die Zeit nach der Bekanntgabe des Rücknahmebescheides ist. Dahinstehen kann, ob im vorliegenden Fall aufgrund der Urteile des 7. Senats die Voraussetzung des § 48 Abs 2 SGB X erfüllt wäre, daß der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes (hier das BSG) "in ständiger Rechtsprechung" nachträglich das Recht anders als die Beklagte bei Erlaß des Kürzungsbescheides ausgelegt hat. Der Gesetzgeber hat zwar diesen Tatbestand dem der wesentlichen Änderung der Verhältnisse als Aufhebungsgrund gleichgestellt; er hat jedoch in § 48 Abs 2 SGB X - wie in § 152 Abs 1 AFG - nur die Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft vorgeschrieben, so daß die Beklagte auch nach § 48 Abs 2 SGB X nicht zu einer Rücknahme verpflichtet sein kann, die auf Zeitpunkte der Urteile des 7. Senates zurückwirkt. Wie einer Verzögerung von Rücknahmebescheiden nach § 152 Abs 1 AFG bzw nach § 48 Abs 2 SGB X zu begegnen wäre, ist hier nicht zu entscheiden, weil kein solcher Fall gegeben ist, zumal die Beklagte die Rücknahme auf den Tag des Rücknahmeantrages hat zurückwirken lassen.

Das LSG hat die Beklagte zu Recht zur Erteilung eines neuen Bescheides verurteilt, in dem sie über die beantragte Rücknahme des Kürzungsbescheides für die Zeit vor dem 27. Februar 1984 gemäß § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X erneut nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat.

Die Systematik des § 44 SGB X schließt es nicht aus, dessen Abs 2 auf Verwaltungsakte anzuwenden, die wie der Kürzungsbescheid im vorliegenden Fall Sozialleistungen (oder Beitragserhebungen) betreffen. Das zeigt schon der Blick auf die Fälle, die Abs 1 Satz 2 erfaßt, nämlich Verwaltungsakte über Sozialleistungen (Beitragserhebungen), die auf unrichtigen oder unvollständigen Angaben des Betroffenen beruhen. Für sie gilt Satz 1 mit seiner Rücknahmeverpflichtung für Vergangenheit und Zukunft nicht. Verstände man Abs 2 so wie die Beklagte, gäbe es für diese Verwaltungsakte keinerlei Rücknahmemöglichkeit, weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft. Daß dies nicht richtig sein kann, liegt auf der Hand, zumal das SGB X frühere Rücknahmegrundsätze nicht einschränken, sondern verallgemeinern wollte (BT-Drucks 8/2034 S 34). Davon abgesehen beseitigt die Gesetzesbegründung jeden Zweifel; nach ihr (aaO) erfaßt Abs 2 vor allem die Fälle, in denen von einem unrichtigen, vom Betroffenen zu vertretenden Sachverhalt ausgegangen worden ist, und daneben auch feststellende Verwaltungsakte. Der mit den Worten "im übrigen" eingeleitete Abs 2 des § 44 SGB X muß danach auch auf Verwaltungsakte anwendbar sein können, die Sozialleistungen (und Beitragserhebungen) betreffen. Er gilt für sie dann, wenn besondere Vorschriften - wie zB § 44 Abs 1 Satz 2 SGB X - für Gruppen solcher Verwaltungsakte die Anwendung des Abs 1 Satz 1, nicht aber auch die des Abs 2 ausschließen.

Damit weicht der Senat nicht von der Entscheidung des 10. Senats des BSG vom 10. Dezember 1985 (SozR 5870 § 2 Nr 44) ab. Zwar ist dort ausgeführt, § 44 Abs 2 SGB X enthalte nur einen Auffangtatbestand für Bescheide, die weder über eine Leistungsberechtigung noch über eine Beitragsverpflichtung befinden. Es handelte sich um einen Fall, in dem der 10. Senat des BSG § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X an sich für anwendbar und nur in seinen Tatbestandsvoraussetzungen nicht für erfüllt hielt. Der 10. Senat wollte daher nicht den Regelungsbereich des § 44 Abs 2 SGB X abschließend bestimmen. Dafür spricht auch, daß er sich auf Hauck/Haines, Komm zum SGB X, § 44, RdNr 23 bezogen hat, die in RdNr 22 in den Fällen des § 44 Abs 1 Satz 2 SGB X wie der erkennende Senat den § 44 Abs 2 SGB X für anwendbar halten.

Als eine Sondervorschrift, die zwar die Anwendung des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X, nicht aber die des § 44 Abs 2 SGB X ausschließt, ist § 152 Abs 1 AFG anzusehen. Nach ihm ist im Arbeitsförderungsrecht der rechtswidrige, nicht begünstigende Verwaltungsakt "abweichend von § 44 Abs 1" SGB X mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Schon dem Wortlaut nach ordnet die Vorschrift nur ihr Verhältnis zum Abs 1 des § 44 SGB X und nicht zu § 44 SGB X insgesamt. Während § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X die Rücknahme für Vergangenheit und Zukunft vorschreibt, beschränkt § 152 Abs 1 AFG die Rücknahmepflicht auf die Zukunft. Damit bleibt vom Text her offen, wie es sich mit der Anwendbarkeit des § 44 Abs 2 SGB X verhält, von dem allerdings nur der Satz 2 Bedeutung erlangt, der die Rücknahme für die Vergangenheit dem Ermessen des Leistungsträgers überläßt.

Aus dem Wortlaut des § 152 Abs 1 AFG läßt sich, bei welchen Erwägungen auch immer, darauf keine überzeugende Antwort gewinnen, wohl aber aus der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 8/2034 S 37). Dort heißt es, die von § 42 Abs 1 SGB X (jetzt § 44 Abs 1 SGB X) abweichende Regelung ergebe sich aus den Besonderheiten des Leistungssystems des AFG. Eine Verpflichtung der Arbeitsämter, rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte, die unanfechtbar geworden sind, stets auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, würde die Arbeitsämter mit einem Verwaltungsaufwand belasten, der im Hinblick auf die Kurzfristigkeit der Leistungen nicht zu rechtfertigen sei. So sei zB allein 1976 bei durchschnittlich 780.000 Empfängern von Alg und Alhi über mehr als 3 Millionen Leistungsanträge zu entscheiden gewesen. Dem ist wörtlich angeschlossen: "Die Arbeitsämter haben aber über die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden", § 42 (§ 44) Abs 2 bis 4 SGB X bleibe unberührt. Dies zeigt eindeutig, daß die Anwendung des § 44 Abs 2 SGB X im Arbeitsförderungsrecht nicht ausgeschlossen werden sollte. Dort sollte von den beiden Rücknahmemodellen des § 44 SGB X (Abs 1: Rücknahmepflicht für Zukunft und Vergangenheit; Abs 2: Rücknahmepflicht für Zukunft, Ermessen für Vergangenheit) nur das des Abs 2 gelten, nicht aber ein - schon in sich fragwürdiges - drittes Modell einer Rücknahmepflicht für die Zukunft und jeglichen Rücknahmeausschlusses für die Vergangenheit.

Zu Unrecht hält die Beklagte den Rückgriff auf die Regierungsbegründung zum Gesetzentwurf für unzulässig, weil im weiteren Gesetzgebungsverfahren nichts davon wiederholt worden sei. Der gegenteilige Schluß ist richtig. Wenn der Entwurf einer Gesetzesvorschrift wie bei § 152 AFG (vgl BT-Drucks 8/4022 S 50 und 70) unverändert Gesetz geworden ist und die übrigen Gesetzgebungsorgane sich nicht abweichend geäußert haben, dann läßt sich daraus schließen, daß der Gesetzgeber sich die Regierungsbegründung zu eigen gemacht hat.

Aus der Regierungsbegründung muß ferner entnommen werden, daß in dem Einräumen eines Rücknahmeermessens für die Vergangenheit kein Widerspruch zum Zweck des § 152 Abs 1 AFG gesehen wurde, die Arbeitsämter nicht mit dem mit einer Rücknahmepflicht verbundenen Verwaltungsaufwand zu belasten. Ein solcher Widerspruch muß in der Tat nicht gegeben sein. Auch wenn sich kein klares Bild über den Verwaltungsaufwand gewinnen läßt, der im einen und im anderen Falle insgesamt auf die Beklagte zukäme, ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Beklagte bei Ermessensentscheidungen eher als bei gebundenen Entscheidungen den Verwaltungsaufwand - zB durch Richtlinien für die Ermessensausübung - zu begrenzen vermag.

Gegen die Anwendbarkeit des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X im Arbeitsförderungsrecht spricht schließlich nicht, daß der Gesetzgeber in dem ebenfalls durch das SGB X eingefügten § 20 Abs 5 BKGG der auch dort "abweichend von § 44 Abs 1" SGB X auf die Zukunft beschränkten Rücknahmepflicht in einem weiteren Halbsatz hinzugefügt hat, der Verwaltungsakt könne ganz oder teilweise auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Das könnte zwar den Schluß nahelegen, daß ein Rücknahmeermessen für die Vergangenheit nur im Kindergeldrecht, nicht aber auch im Arbeitsförderungsrecht gewollt sei. Der Gesetzgeber verhält sich in dieser Hinsicht jedoch nicht immer konsequent. Scheinbaren Widersprüchen in der Gesetzesgestaltung kann auch ein einheitlicher Wille des Gesetzgebers zugrunde liegen. Gerade so ist es aber im Verhältnis von § 152 Abs 1 AFG zu § 20 Abs 5 BKGG. Die Begründung zu § 20 Abs 5 BKGG (BT-Drucks 8/2034 S 41) führt nahezu identisch mit der zu § 152 Abs 1 AFG aus, daß nicht begünstigende Verwaltungsakte im Kindergeldrecht überwiegend nur verhältnismäßig kurze Leistungszeiträume beträfen; es sei nicht aus Billigkeitsgründen geboten und würde zu einem unvertretbaren Verwaltungsaufwand führen, alle diese Fälle wieder aufzugreifen; daher sei es sachgerecht, die Rücknahme für die Vergangenheit dem Ermessen der Kindergeldstellen zu überlassen. Dem folgt der Satz, der den einheitlichen Regelungswillen bei beiden Vorschriften außer Zweifel stellt: "Die Regelung ist auch erforderlich, um eine einheitliche Durchführung des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit sicher zu stellen". Zur "gesetzlichen Klarstellung'' ist im übrigen beabsichtigt, den Wortlaut im AFG dem im BKGG anzugleichen (BT-Drucks 10/6283 S 7).

Der nach alledem anwendbare § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X setzt in Verbindung mit dem vorangehenden Satz 1 voraus, daß der nicht begünstigende Verwaltungsakt, um dessen Rücknahme es geht, rechtswidrig ist. Das war hier der Fall. Der 7. Senat des BSG hat bereits mit Urteilen vom 20. Oktober 1983 (SozR 4150 Art 1 § 2 Nr 1) und vom 7. Dezember 1983 (7 RAr 22/83, AuB 1984, 220) entschieden, daß die in den Bewilligungsbescheiden der Beklagten vor 1982 enthaltenen Vorbehalte nicht den Anforderungen des Art 1 § 2 Nr 3 Buchst a AFKG entsprachen und daher keine Herabsetzung der Leistungen ab 1. Januar 1982 nach dem AFKG erlaubten. Der erkennende Senat hält diese Entscheidungen für zutreffend und schließt sich ihnen an.

Die Beklagte mußte daher, weil die Voraussetzungen des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X erfüllt waren, über die beantragte Rücknahme des Kürzungsbescheides nach pflichtgemäßem Ermessen befinden. Sie hat in dem Widerspruchsbescheid eine Ermessensentscheidung treffen wollen. Bei deren Nachprüfung ist der Senat auf die dort mitgeteilten Ermessenserwägungen beschränkt. Dies ergibt sich aus den Vorschriften des SGB X über die Begründung von Ermessensentscheidungen. Das SGB X schreibt in § 35 Abs 1 - wenn wie hier kein Fall des Abs 2 gegeben ist - die Begründung von Ermessensentscheidungen in der Weise vor (Satz 3), daß die Behörde in der Begründung des Verwaltungsaktes die Gesichtspunkte erkennen lassen muß, von denen sie bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Nach § 41 Abs 1 Nr 2 SGB X kann "die erforderliche Begründung" zwar noch nachträglich gegeben werden, gemäß Abs. 2 aber nur bis zum Abschluß des Vorverfahrens bzw bis zur Erhebung der Klage. Werden wesentliche Ermessenserwägungen später erst mitgeteilt, die bei Erlaß des Verwaltungsaktes oder des Widerspruchsbescheides angestellt worden sind, dürfen sie nicht berücksichtigt werden. Erst recht gilt das für Ermessenserwägungen, die überhaupt erst nach diesen Zeitpunkten angestellt worden sind. Daß diese Erwägungen in der Regel nicht mehr der Kontrolle der Widerspruchsstelle unterliegen konnten, wäre noch ein zusätzlicher Grund. Soweit vor dem Erlaß des SGB X die nachträgliche Mitteilung und das Nachholen von Ermessenserwägungen nach den in § 41 Abs 2 SGB X genannten Zeitpunkten zugelassen wurde, kann diese Rechtsprechung nach dem Inkrafttreten des SGB X nicht mehr fortgeführt werden.

Mit den im Widerspruchsbescheid mitgeteilten Erwägungen hat die Beklagte der für Ermessensentscheidungen vorgeschriebenen Begründungspflicht nicht genügt. Wenn es dort heißt, daß nach den bekannten Fakten eine Rücknahme des angefochtenen Bescheides (gemeint: des Kürzungsbescheides) für die Vergangenheit nicht möglich sei, so läßt dies nicht die Gesichtspunkte erkennen, von denen die Widerspruchsstelle bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist; es bleibt unklar, welche Fakten sie als bekannt angesehen und vor allem, wie sie diese bei der Ermessensentscheidung gewertet hat; infolgedessen kann nicht nachgeprüft werden, ob ihre Erwägungen dem Zweck der ihr erteilten Ermessensermächtigung entsprochen haben (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG). Davon abgesehen, bleibt sogar offen, ob im Verwaltungsverfahren überhaupt eine Ermessensausübung in dem vom Gesetz geforderten Umfang stattgefunden hat. Das Arbeitsamt hatte kein Ermessen ausgeübt; die Widerspruchsstelle hat angesichts ihrer Erläuterung, daß ein Ermessensfehlgebrauch des Arbeitsamtes nicht feststellbar sei, möglicherweise nur eine Rechtskontrolle auf Ermessensfehler vornehmen wollen, obgleich ihr eigenes Ermessen zustand; das kann jedoch dahingestellt bleiben, weil der angefochtene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides jedenfalls wegen unzureichender Begründung der Ermessensentscheidung rechtswidrig ist.

Da die Klägerin nicht nur die Verurteilung der Beklagten zur Erteilung eines neuen Bescheides mit neuer Ermessensausübung, sondern unmittelbar die Verurteilung zur Rücknahme des Kürzungsbescheides beantragt hat, muß im weiteren geprüft werden, ob das Ermessen der Beklagten zugunsten der Klägerin bereits in dem Sinne "auf Null geschrumpft" ist, daß sie sich nur noch für die Rücknahme des Kürzungsbescheides entscheiden könnte. Die von der Klägerin hierzu vorgetragenen Gesichtspunkte haben jedoch keine derartige Lage geschaffen. Auch hier müssen die Ziele und Zwecke anderer gesetzlicher Vorschriften und zwar diesmal die des § 152 Abs 1 AFG mitberücksichtigt werden. Der Gesetzgeber hat dort für rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte über Sozialleistungen im Arbeitsförderungsrecht eine Rücknahmepflicht nur für die Zukunft gewollt und sie für die Vergangenheit bewußt ausgeschlossen. Dann ist es aber nicht zulässig, im Rahmen des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X für die Fälle, die der Gesetzgeber im Blick gehabt haben muß, über eine Ermessensreduzierung auf Null praktisch doch zu einer Rücknahmepflicht auch für die Vergangenheit zu gelangen. Die von der Klägerin vorgetragenen Gesichtspunkte müssen mit im Blickpunkt des Gesetzgebers gewesen sein. Er hat aber beim Ausschluß der Rücknahmepflicht für die Vergangenheit nicht, wie es die Klägerin will, zwischen Fehlern bei der Sachverhaltsfeststellung und solchen bei der Rechtsanwendung, die wohl immer im Verantwortungsbereich der Beklagten liegen, unterschieden. Die Fälle, an die er gedacht hat, müssen Zeiträume, wie sie hier streitig sind und sogar völlige Leistungsversagungen für diese Zeiträume und nicht nur wie hier, Leistungskürzungen umfaßt haben. Beim Verwaltungsaufwand hat der Gesetzgeber zwar darauf abgestellt, welcher Verwaltungsaufwand für die Beklagte insgesamt bei einer allgemeinen Rücknahmepflicht entstünde; es deutet aber nichts darauf hin, daß er dann, wenn der Verwaltungsaufwand im einzelnen Falle "minimal" wäre, eine Verpflichtung der Beklagten zur Rücknahme des Verwaltungsaktes gewollt hätte, was nicht ausschließt, daß die Beklagte dies bei der Ermessensausübung berücksichtigen kann. Eine Ermessensreduzierung auf Null ist auch nicht durch die Urteile des 7. Senates vom 20. Oktober und 7. Dezember 1983 für Leistungszeiträume nach dem ersten oder nach dem zweiten dieser Urteile eingetreten; diese Annahme wäre nicht mit der Vorschrift des § 48 Abs 2 Satz 2 SGB X vereinbar, wonach eine ständige Rechtsprechung des BSG die Verwaltung nur zu Aufhebungen für die Zukunft verpflichtet, wie eingangs zu Teil II der Gründe schon dargelegt worden ist.

Die Revisionen waren daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 189

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