Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 30.10.1956)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. Oktober 1956 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I.

Der Ehemann und Vater der Kläger, der am 5. November 1906 geborene Hilfsarbeiter Josef B. wurde am 12. Oktober 1953 gegen 19.45 Uhr auf der Autobahn München-Augsburg-Ulm-Stuttgart an der Autobahnzufahrt Augsburg-Ost von einem Kraftwagen erfaßt, als er mit einem Fahrrad die Autobahn befuhr. Er ist in der Chirurgischen Klinik der Städtischen Krankenanstalten Augsburg, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, am 13. Oktober 1953 gestorben.

Die Beklagte hat die Entschädigungsansprüche der Hinterbliebenen mit Bescheid vom 2. März 1954 abgelehnt, weil ihrer Auffassung nach der zeitliche, ursächliche und örtliche Zusammenhang des Weges mit der Betriebsbeschäftigung im Zeitpunkt des Unfalls gelöst gewesen sei. In der Begründung ist ausgeführt: Es habe nicht mehr geklärt werden können, warum B. sich mit dem Fahrrad auf die Autobahn begeben habe, insbesondere ob er infolge seines angeheiterten Zustandes oder durch die nach Angaben seiner Ehefrau bestehende starke Sehbehinderung den direkten Weg verfehlt habe. Fest stehe jedoch, daß er durch das Aufsuchen der Gaststätte „Blindes Eck” gegen 18.30 Uhr (Arbeitsschluß 17.00 Uhr, normale Bauer des Heimwegs etwa 1 Stunde) und den Aufenthalt in der Gaststätte von mindestens 1 Stunde den Zusammenhang mit der Betriebsbeschäftigung gelost habe.

Gegen diesen Bescheid haben die Kläger Klage beim Sozialgericht (SG.) Augsburg erhoben.

Dieses hat durch Urteil vom 17. Dezember 1954 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das SG. ausgeführt; Der Unfall habe sich auf der Autobahneinfahrt Augsburg-Ost ereignet, also an einer Stelle, die im Verhältnis zu dem Weg zwischen Arbeitsstätte und Wohnung in völlig anderer Richtung liege. B. sei von der Stelle aus, wo er nach seiner Wohnung hätte einbiegen müssen, noch etwa 2 1/2 km in nördlicher Richtung weitergefahren. Warum er diesen Weg gefahren sei, könne nicht mehr geklärt werden. Nach der Überzeugung des Gerichts stehe jedoch fest, daß er diesen Weg nicht wegen des etwaigen Neßels unabsichtlich gefahren sei. Eine derartige Abweichung von 2 1/2 km hätte er auch bei stärkstem Nebel und bei etwa vorhandener Kurzsichtigkeit bemerken müssen. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit durch den Aufenthalt in der Gaststätte „Blindes Eck” gelost; worden sei.

Gegen dieses Urteil haben die Kläger beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG.) Berufung eingelegt. Das LSG. hat durch Urteil vom 30. Oktober 1956 das Urteil des SG. Augsburg vom 17. Dezember 1954 aufgehoben und die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, den Klägern die gesetzlichen Leistungen zu gewähren.

Die Revision ist vom LSG. zugelassen worden.

Hinsichtlich der tatsächlichen Torgänge hat das LSG. im Urteil folgendes ausgeführt:

Die Arbeitszeit sei um 17.00 Uhr beendet gewesen. Nach der Aussage des Zeugen O. sei anzunehmen, daß B. zwischen 18.00 Uhr und 18.30 Uhr, frühestens also um 18.00 Uhr, die Gaststätte „Blindes Eck” betreten habe. Sein Aufenthalt in der Zwischenzeit sei nicht festzustellen gewesen. Die Schätzung des Zeugen O. daß die Strecke von der Arbeitsstelle am Schmiedberg bis zum „Blinden Eck” von einem Radfahrer in einer Viertelstunde zurückzulegen sei, erscheine glaubhaft. B. sei als zuverlässiger Arbeiter bekannt gewesen und somit sei die Annahme berechtigt, daß er sich noch längere Zeit an der Arbeitsstelle mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt habe. Der Aufenthalt im „Blinden Eck” könne höchstens 1 Stunde, wahrscheinlich aber weniger, gedauert haben. In dieser Zeit habe B. etwa 3 halbe Liter Bier getrunken, wodurch eine Blutalkoholkonzentration von 0,8 ‰ verursacht worden sei. Es stehe fest, daß B. außerordentlich sehbehindert gewesen sei. Am Unfalltage habe er seine Brille nicht bei sich gehabt, sei also vor allem bei Dunkelheit in ganz besonderem Masse behindert gewesen, sich auf Wegen zurechtzufinden. Zu dieser Sehuntüchtigkeit habe sich noch eine extreme Mangelhaftigkeit gesellt, sich örtlich zu orientieren. Es könne als erwiesen angesehen werden, daß B. das „Blinde Eck” nur aufgesucht habe, um mit dem Zeugen O. über die Lieferung von Rollierhämmerstielen zu verhandeln. Diese Stiele, die wahrscheinlich schon geliefert gewesen seien, hätten das eigentliche Thema der Unterredung gebildet. Daneben seien gesprächsweise auch andere berufliche Dinge berührt worden. Der Zeuge O. habe B. bei der Verabschiedung auf den Hof begleitet. Es sei dunkel gewesen: und so dunstig, daß die roten Warnlampen an der Baustoffe kaum zu erkennen gewesen seien. B. habe sich zu Fuß, sein Rad schiebend auf der Königsberger Straße in Richtung Derchinger Straße bewegt. Was sich von diesem Zeitpunkt an ereignet habe, sei nicht aufzuklären gewesen. Der Unfall sei 19.45 Uhr auf der Autobahn München-Augsburg, kurz hinter der Ausfahrt Augsburg-Ost, geschehen.

In Würdigung dieses Sachverhalts ist der Senat zu folgenden Schlußfolgerungen gelangt:

Der Weg am „Blinden Eck” vorbei sei kaum ein Umweg. Was sich nach dem Verlassen des „Blinden Eck” ereignet habe, sei hinsichtlich des Grades der Wahrscheinlichkeit nur aus der Persönlichkeit des Verstorbenen und dem Zusammentreffen ungünstiger, aber entscheidender Tatbestandsmerkmale zu verstehen. Es bestehe nicht der geringste Anhalt dafür, daß B. nicht die Absicht gehabt; habe, direkt nach Hause zu fahren. Ein vernünftiger Grund, zur Autobahn zu fahren, sei nicht ersichtlich. B. habe sogar eine starke Abneigung gegen die Autobahn gehabt. Die Gegend rund um die Autobahneinfahrt sei so gut wie unbesiedelt; zudem sei es finster und dunstig gewesen. Diese Umstände zwängen zu dem Schluß, dass B. zwar heimkehren wollte, sich aber verirrt habe. Wie gering die Fähigkeit, sich örtlich zu orientieren, gewesen sein müsse, beweise, daß er auf der Autobahn noch mit dem Fahrrad gefahren und nicht längst abgestiegen sei. Ein solches Verhalten wäre allenfalls verständlich bei sinnloser Trunkenheit. Biese habe aber keineswegs vorgelegen. B. sei zwar etwas angeheitert gewesen, der innere Zusammenhang sei aber hierdurch nicht aufgehoben worden. B. müsse sich seines Verhaltens, nämlich der vermeintlichen Zurücklegung des Heimwegs, bewußt gewesen sein. Daß er trotzdem auf die Autobahn geraten sei, könne nur auf die schon erwähnten Tatsachen (starke Sehstörung, fohlende Brille, geringe Ortskenntnis, leicht angeheiterter Zustand, Dunkelheit und Dunst) zurückzuführen sein. Anschließend hat das LSG. die verschiedenen Möglichkeit dafür, auf weichen Wegen B. nach. Auffassung des Senats zur Autobahn gelangt sein könnte, behandelt.

Das Urteil der Beklagten am 29. Dezember 1956 zugestellt worden.

Gegen das Urteil des LSG. hat die. Beklagte am 3. Januar 1957 Revision eingelegt und sie am 4. Februar 1957 begründet. Sie beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und in Zurückweisung der Berufung der Kläger gegen das Urteil des SG. Augsburg sowie in Wiederherstellung des angefochtenen Bescheids der Beklagten vom 2. März 1954 die Klage abzuweisen,

hilfsweise beantragt sie,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§162 Abs. 1 Nr. 1 des SozialgerichtsgesetzesSGG) und in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden (§164 SGG). Sie ist also zulässig, jedoch nicht begründet.

Die Revision wendet sich gegen die Feststellung des LSG., B. habe sich verirrt und sei dadurch unabsichtlich auf die Autobahn geraten, mit folgenden Ausführungen:

Um auf die Autobahn zu gelangen, habe B. die Autobahnausfahrt passieren müssen. Dort befinde sich aber eine Tankstelle, die hell erleuchtet sei. Es sei deshalb nicht möglich, daß er unabsichtlich auf die Autobahn geraten sei. Die Feststellung des LSG. B. habe sich verirrt, beruhe unter diesen Umständen auf einem Verstoß gegen die §§103 und 106 SGG und stelle gleichzeitig eine Überschreitung der Grenzen des nach §128 SGG gewährten Rechts der freien Beweiswürdigung dar. Sie enthalte einen Verstoß gegen die Logik und gegen die Denkgesetze. Es seien nur zwei Denkmöglichkeiten gegeben: Entweder habe sich der Verunglückte nicht verirrt, sondern sei absichtlich auf die Autobahn gefahren oder er sei so betrunken gewesen, daß er die Örtlichkeiten nicht erkannt habe.

Diese Rüge enthält insoweit ein neues tatsächliches Vorbringen, die Revision behauptet, daß an der Autobahnausfahrt eine hell erleuchtete Tankstelle vorhanden sei. Dieses Vorbringen, dessen Richtigkeit übrigens von den Klägern mit näheren Ausführungen bestritten worden ist, kann jedoch in der Revisionsinstanz nicht berücksichtigt werden. Soweit diese Rüge sich auf §103 SGG bezieht, ist sie nicht schlüssig denn die Revision hat nicht dargelegt, daß die Beklagte in den Tatsacheninstanzen bereits auf den von ihr in der Revisionsinstanz vorgebrachten Umstand hingewiesen hätte oder daß: das LSG. von sich aus Veranlassung gehabt hatte, Ermittlungen in dieser Richtung anzustellen. Die Behauptung der Revision, daß die Feststellung des LSG. auf einem Verstoß gegen die Denkgesetze beruhe, ist unrichtig. Die Schlußfolgerungen des LSG. sind im Gegensatz zu der Auffassung der Revision durchaus denkmöglich. Soweit die Revision darzutun versucht, daß die Würdigung der vom LSG. erhobenen Beweise von einem anderen wertenden Standpunkt aus zu anderen Ergebnissen führen kann, richtet sich die Rüge gegen das; Ergebnis der Beweiswürdigung und betrifft nicht das Verfahren des LSG. Die Revision hat insbesondere auch nicht dargetan, daß das LSG. bei seinen Schlußfolgerungen beweiswichtige Umstände unberüksichtigt gelassen hätte.

Weiterhin rügt die Revision, das LSG. hätte auf Grund des Gutachtens des Prof. Dr. L. dem Ergebnis kommen müssen, daß I. nicht mehr fähig gewesen sei, unter Benutzung eines Fahrrads am öffentlichen Verkehr teilzunehmen. Auch diese Rüge richtet sich lediglich gegen das Ergebnis der Beweiswürdigung. Die Revision hat insoweit weder einen Verstoß gegen die Denkgesetze noch eine sonstige Überschreitung des Rechts der freien Überzeugungsbildung (§128 SGG) schlüssig gerügt. Die tatsächlichen Feststellungen, auf denen die Entscheidung des LSG. beruht, sind somit von der Revision nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen worden und deshalb für den erkennenden Senat bindend (§163 SGG). Im übrigen enthält das Vorbringen der Revision keine Rügen, die das Verfahren des LSG. betreffen. Das LSG. hat auf Grund der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen ohne Rechtsirrtum angenommen, daß sich B. bis zum Erreichen der Gaststätte „Blindes Eck” auf einem unter Versicherungsschütz stehenden Heimweg (§543 der Reichsversicherungsordnung RVO) befunden hat und daß der Zusammenhang dieses Heimwegs mit der versicherten Tätigkeit durch den Aufenthalt in dieser Gaststätte nicht gelöst worden ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob das LSG. den Aufenthalt im, „Blinden Eck” mit Recht als versichert angesehen hat. Auf jeden Fall war dieser Aufenthalt nicht so ausgedehnt, daß er geeignet war, eine endgültige Lösung herbeizuführen und für den restlichen Heimweg den Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit in Wegfall zu bringen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß die Besprechung mit dem Zeugen O. wie das LSG. zutreffend ausgeführt hat, in rechtlich wesentlichem Umfange auch mit der versicherten Tätigkeit im Zusammenhang stand. Da nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG. davon auszugeben ist, daß B. sich nach dem Verlassen der Gaststätte „Blindes Eck” verirrt hat und unabsichtlich auf die Autobahn geraten ist, hängt: die Entscheidung von der Rechtsfrage ab, ob der Versicherungsschutz nach §543 RVO dann entfällt, wenn ein Versicherter sich auf dem Heimweg von der Arbeitsstätte verirrt und dadurch von seinem Heimweg abkommt. Diese Frage wäre unbedenklich zu verneinen, wenn das Verirren lediglich auf äußere Umstände zurückzuführen wäre; denn dann wäre das Verirren eine mit der Zurücklegung des Heimwegs verbundene Gefahr, und es käme nicht darauf an, wie weit der Heimkehrende von seinem eigentlichen Weg abgekommen ist und wie unzweckmäßig er sich möglicherweise bei dem Versuch verhalten hat, den richtigen Weg wiederzufinden. Der hier zu entscheidende Fall weist jedoch die Besonderheit auf, daß persönliche Eigenschaften des B., nämlich seine ungewöhnliche Kurzsichtigkeit und sein außerordentlich schlechter Orientierungssinn, auch nach der Auffassung des LSG. für das Verirren entscheidend waren. Im übrigen ist nach den Feststellungen des LSG. auch die leichte Alkoholbeeinflussung nicht ohne Bedeutung gewesen. Es kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, wie zu entscheiden wäre, wenn das Verirren lediglich auf derartige in der Person des Heimkehrenden liegende Ursachen zurückzuführen wäre; denn nach den Feststellungen des LSG. sind auch äußere, mit der besonderen Art des Heimwegs verbundene Umstände für das Verirren ursächlich gewesen. Das LSG. hat festgestellt, daß Dunkelheit herrschte, daß die Sicht durch Nebelbildung erheblich beeinträchtigt war und daß der Heimweg durch unbesiedelte und entweder gar nicht oder nur schlecht beleuchtete Gegenden führte. Das LSG. hat rechtlich unbedenklich diese ursächlich mitwirkenden äußeren Umstände als wesentlich im Rechtssinn angesehen. Es ist infolgedessen ohne Rechtsirrtum zu dem Ergebnis gekommen, daß der Verletzte einer Gefahr erlegen ist, der er durch die betriebsbedingte Notwendigkeit, den Heimweg anzutreten, ausgesetzt war. Hiernach enthält die rechtliche Würdigung des als erwiesen angesehen Sachverhalts durch das LSG. keinen Rechtsirrtum. B. stand im Augenblick des Unfalls nach §543 Abs. 1 RVO noch unter Versicherungsschutz.

Die Revision ist unbegründet und war zurückzuweisen (§170 SGG).

Die Kostenentscheidung ergeht auf Grund des §193 SGG.

 

Unterschriften

Brackmann, Schmitt, Demiani

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926325

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