Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Hinweispflicht des Gerichts. Beweiswürdigung
Orientierungssatz
Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene, bestimmte Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitende Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl BSG vom 21.9.2006 - B 12 KR 24/06 B).
Normenkette
SGG § 160 Abs 2 Nr 3, §§ 160a, 128 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 29.03.2006; Aktenzeichen L 16 R 471/05) |
SG Berlin (Entscheidung vom 22.03.2005; Aktenzeichen S 9 RA 5498/03) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist in der Hauptsache streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, Beschäftigungszeiten des Klägers in der DDR als Zeiten der Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz (AVItech) und die dabei erzielten Arbeitsentgelte festzustellen.
Dem Kläger war im Juli 1971 das Recht verliehen worden, die Berufsbezeichnung "Ingenieur" zu führen. Vom 1. Januar 1971 bis 31. Dezember 1973 war er beim VEB Kombinat R. als Problemanalytiker und vom 1. Januar 1974 bis 30. Juni 1990 beim VEB R. (nachfolgend RVB) als Projektant beschäftigt. Er war zum 1. Februar 1977 der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung beigetreten. In ein Zusatzversorgungssystem der DDR war er nicht einbezogen worden.
Den Antrag des Klägers, seine Beschäftigungszeiten bis 30. Juni 1990 als Zeiten der Zugehörigkeit zur AVItech und die dabei erzielten Arbeitsentgelte festzustellen, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 4. November 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2003). Das Sozialgericht hat die Beklagte verpflichtet, die strittigen Zeiten als Zugehörigkeitszeiten zur AVItech und die dabei erzielten Arbeitsentgelte festzustellen (Urteil vom 22. März 2005). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klagen abgewiesen (Urteil vom 29. März 2006). Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unzulässig. Der Kläger hat die geltend gemachten Zulassungsgründe einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), einer Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) und eines Verfahrensmangels, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), nicht in der gebotenen Weise dargelegt bzw bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
1. Das Vorbringen des Klägers genügt nicht den Anforderungen, die an die Bezeichnung eines Verfahrensmangel zu stellen sind.
a) Die geltend gemachte Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz, § 62 SGG) hat der Kläger nicht ordnungsgemäß bezeichnet.
Er trägt vor, das Urteil des LSG gründe sich wesentlich auf der Erwägung, für das Vorliegen der betrieblichen Voraussetzungen in Gestalt prägender industrieller Produktion im Beschäftigungsbetrieb sei deren Serienmäßigkeit unabdingbar und eine "serienmäßig wiederkehrende - fabrikmäßige - Massenproduktion" könne bei Stückzahlen von 240 bis 250 Großanlagen pro Jahr nicht vorgelegen haben. Ein solcher vom Gericht für möglich gehaltener Zusammenhang hätte im Verfahren, besonders in der mündlichen Verhandlung vom 29. März 2006, erörtert werden müssen, denn aus seiner Sicht seien die bekannten Zahlenwerte nicht entscheidungserheblich gewesen.
Mit dieser Rüge einer Überraschungsentscheidung hat der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht dargetan. Er trägt nicht vor, dass LSG habe seine Entscheidung auf Fakten gestützt, die den Beteiligten vorher nicht bekannt gewesen seien. Um aufzuzeigen, dass er von der rechtlichen Subsumtion, die das LSG auf Grund des bekannten Sachverhalts vorgenommen hat, überrascht worden sein könnte, hätte er unter Bezugnahme auf den Gang des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens und das Vorbringen der Beteiligten, also auch der Beklagten, sowie unter Angabe von Äußerungen des Berufungsgerichts darlegen müssen, dass die Entscheidung des LSG nach dem bisherigen Sach- und Streitstand von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte. Hierzu fehlen ausreichende Ausführungen in der Beschwerdebegründung.
Soweit der Kläger möglicherweise allgemein - außerhalb dieser Fallgestaltung - eine Hinweispflicht des Gerichts annehmen will, verkennt er, dass es einen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene, bestimmte Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern, nicht gibt (BSG, Beschluss vom 21. September 2006, B 12 KR 24/06 B, mwN). Es ist daher nicht weiter darauf einzugehen, dass eine derartige vorherige Mitteilung ohnehin nicht vorab ergehen kann, weil hierüber das Gericht erst in seiner vollen Besetzung, also unter Mitwirkung nicht nur der Berufsrichter, sondern auch der ehrenamtlichen Richter, befindet.
b) Soweit der Kläger vorträgt, die Annahme des LSG, eine serienmäßig wiederkehrende - fabrikmäßige - Massenproduktion könne bei Stückzahlen von 240 bis 250 Großanlagen pro Jahr nicht vorgelegen haben, verstoße gegen das aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleitete Willkürverbot, ist schon nicht erkennbar, welchen Verfahrensmangel er konkret rügen will.
Sollte er meinen, das LSG habe seine Begründungspflicht (§ 136 Abs 1 Nr 6 SGG) verletzt, hätte er die Maßstäbe aufzeigen müssen, nach denen sich beurteilt, ob die gerichtlichen Entscheidungsgründe der gesetzlichen Begründungspflicht genügen. Ebenso hätte er die Maßstäbe darlegen müssen, an denen eine Verletzung des Willkürverbots zu messen ist. Hierzu fehlen jegliche Ausführungen.
2. Auch den Zulassungsgrund der Divergenz hat der Kläger nicht ordnungsgemäß bezeichnet.
Eine Divergenz liegt nur dann vor, wenn die tragenden Rechtssätze, die zwei Urteilen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen (so schon BSG SozR 1500 § 160a Nr 67). Der Kläger hätte somit vortragen müssen, mit welchem abstrakten Rechtssatz die Hauptsacheentscheidung des LSG von welcher genau bestimmten Aussage in einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) oder eines anderen in § 160 Abs 2 SGG benannten Gerichts abweicht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 21, 29, 67).
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Der Kläger trägt vor, die Entscheidung des LSG beruhe auf folgendem Rechtssatz: |
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"Um die industrielle Fertigung von Sachgütern im Sinne der Rechtsprechung des BSG handelt es sich nicht, wenn im Rahmen von Baustellenmontagen (im Urteil als Endmontage beim Endabnehmer bezeichnet) Datenverarbeitungsanlagen aus im wesentlichen industriell vorgefertigten Komponenten hergestellt werden und dabei nur Jahresstückzahlen von 240 bis 250 Anlagen pro Jahr anfallen." |
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Diese Rechtsauffassung sei mit dem Urteil des BSG vom 9. April 2002 (B 4 RA 41/01 R) nicht vereinbar, da es nach dessen Wortlaut nur darauf ankomme, dass der |
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"Hauptzweck des VEB auf die industrielle Fertigung, Fabrikation, Herstellung bzw. Produktion (fordistisches Produktionsmodell) von Sachgütern ausgerichtet gewesen (ist)." |
Mit diesem Vorbringen hat der Kläger keine Divergenz aufgezeigt. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob die Rechtsauffassung des LSG mit der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung vereinbar ist; zwar wäre in einem solchen Fall das angefochtene Urteil in der Sache unrichtig, Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist jedoch nicht, ob das LSG in der Sache richtig entschieden hat. Eine Divergenz liegt nur bei einer Nichtüberstimmung der tragenden abstrakten Rechtssätze vor, nicht aber schon dann, wenn das LSG den höchstrichterlichen Rechtssatz nicht oder unzutreffend angewandt und dadurch falsch entschieden hat.
Der Kläger trägt selbst vor, das LSG habe gemeint, im Sinne der Rechtsprechung des BSG entschieden, dh diese Rechtsprechung im von ihm entschiedenen Fall umgesetzt zu haben. Schon deshalb ergibt sich aus dem Vorbringen des Klägers keine Divergenz. Darüber hinaus lässt sich der zitierten Aussage aus der Entscheidung des BSG auch nicht entnehmen, dass dort eine Aussage zum evtl Erfordernis bzw Nichterfordernis einer bestimmten Jahresstückzahl getroffen worden ist. Auch insoweit hat der Kläger keinen Widerspruch aufgezeigt.
3. Das Vorbringen des Klägers genügt auch nicht den Anforderungen, die an die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zu stellen sind.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie geeignet ist, die Rechtseinheit zu erhalten oder die Fortbildung des Rechts zu fördern. Dass und warum dies der Fall ist, muss sich allein aus der Beschwerdebegründung ergeben. Der Beschwerdeführer muss die im angestrebten (späteren) Revisionsverfahren zu entscheidende Rechtsfrage klar bezeichnen und ausführen, dass diese von allgemeiner Bedeutung, klärungsbedürftig und klärungsfähig ist (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 1).
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Der Kläger misst der Frage eine grundsätzliche Bedeutung bei, |
"in welcher Art von Unternehmen (Beschäftigungsbetrieben) Angehörige der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben der DDR die sachlichen Voraussetzungen für die Erlangung eines Versorgungsanspruchs aus der AVItech erfüllen konnten." |
a) Legt man allein den Wortlaut der vom Kläger formulierten Frage zu Grunde, so ist von vornherein nicht erkennbar, dass die Frage klärungsfähig, dh entscheidungserheblich in dem Sinne sein könnte, dass das Bundessozialgericht (BSG) nach Zulassung der Revision rechtlich und faktisch notwendig über die angesprochene Thematik entscheiden müsste. Die vom Kläger formulierte Frage bezieht sich auf die "sachlichen" Voraussetzungen für die Erlangung eines (fiktiven) Versorgungsanspruchs aus der AVItech. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG stellt die sachliche Voraussetzung allein darauf ab, welche Tätigkeit ein Betroffener konkret in einem Betrieb ausgeübt hat (vgl hierzu stellvertretend: Urteile des BSG vom 9. April 2002, B 4 RA 31/01 R, SozR 3-8570 § 1 Nr 2; B 4 RA 3/02 R, SozR 3-8570 § 1 Nr 7). Der Kläger hat in seiner Beschwerdebegründung aber nicht einmal ansatzweise dargelegt, warum das BSG im angestrebten (späteren) Revisionsverfahren über eine Frage zur sachlichen Voraussetzung entscheiden müsste.
b) Sollte der Kläger sich jedoch lediglich im Ausdruck vergriffen haben und seine Frage nicht zur "sachlichen", sondern "betrieblichen" Voraussetzung für eine Einbeziehung in die AVItech formulieren wollen, hat er mit Blick auf die von ihm selbst zitierte Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 9. April 2002, B 4 RA 41/01 R, SozR 3-8570 § 1 Nr 6) und die für das BSG bindenden Feststellungen des LSG nicht aufgezeigt, warum seine Frage klärungsfähig und klärungsbedürftig sein könnte. Er selbst räumt ein, dass das BSG in der von ihm zitierten Entscheidung vom 9. April 2002 Ausführungen dazu gemacht hat, wann ein Betrieb in der DDR als volkseigener Betrieb der Industrie anzusehen ist. Er meint jedoch, dass die vom BSG gegebene Definition nicht alle Unklarheiten beseitige, die in einer Vielzahl von Verfahren vor allem bei solchen Betrieben aufgetreten seien, deren Produktion nicht der Urproduktion, der Herstellung von Teilen oder anderen Zwischenprodukten oder von einzelnen Einzelerzeugnissen zugerechnet werden könne. Warum für das BSG Anlass bestehen könnte, sich mit der vom Kläger angesprochenen Problematik zu beschäftigen, hat er nicht aufgezeigt.
Insoweit hätte für ihn Anlass bestanden, auf die für das BSG bindenden Feststellungen des LSG einzugehen (§ 163 SGG), die er nicht mit zulässigen Verfahrensrügen (siehe hierzu auch oben unter Ziff 1) angegriffen hat. Danach hat das LSG auf Grund der von ihm vorgenommenen Beweiswürdigung festgestellt, dass der Hauptzweck des RVB nicht in der industriellen (serienmäßig wiederkehrenden) Massenfertigung von Sachgütern, sondern im Bereich der Endmontage von Datenverarbeitungsanlagen beim Endabnehmer nach dessen individuellen Erfordernissen aus im Wesentlichen von anderen Betrieben industriell vorgefertigten Komponenten bestanden hat. Warum mit Blick auf diese tatsächlichen Feststellungen die vom Kläger formulierte Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich werden könnte, hat er nicht dargetan.
4. Die Beschwerdebegründung entspricht nicht den gesetzlichen Anforderungen. Die Beschwerde ist daher als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Fundstellen