Entscheidungsstichwort (Thema)

Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Die Bildung einer Rückstellung durch buchführende Notare zur Berücksichtigung von Haftpflichtverbindlichkeiten wird nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß zum Bilanzstichtag noch keine Inanspruchnahme durch einen Auftraggeber vorliegt.

 

Normenkette

EStG § 4/1, § 6/3, § 6/1/3

 

Tatbestand

Der Steuerpflichtige (Stpfl.) ist buchführender Notar. In seinen Schlußbilanzen per 31. Dezember 1948 und 31. Dezember 1949 hat er Passivposten für zu erwartende Verluste aus Haftpflicht eingesetzt. Er hat diese Rückstellungen damit begründet, daß er sich als Notar gegen Haftpflichtansprüche nur zum Teil versichern könne. So müßte er von der etwaigen Schadenssumme bis zu 10.000 DM 20 v. H. und vom Mehrbetrage bis 20.000 DM 10 v. H. selbst tragen. Außerdem seien vom Versicherungsschutz unter anderem die dem Versicherungsnehmer in der Verstoßsache zugeflossenen Gebühren, ferner Schäden im Zusammenhang mit der Hinterlegung von Geldansprüchen, Ansprüche wegen Verletzung oder Nichtbeachtung ausländischen Rechts sowie wegen fehlerhafter Rangzusagen nicht erfaßt. Zudem sei es eine Besonderheit im Notariatsberuf, daß die Geltendmachung von Haftpflichtansprüchen erst sehr spät, zumeist erst nach 10 Jahren, erfolge. Schließlich sei die Gesetzgebung nach der Währungsreform besonders undurchsichtig geworden, was zu einer erhöhten Haftungsgefahr für den Notar geführt habe. Die Höhe der Rückstellungen ergebe sich aus einer Aufstellung der besonders schwierigen Notariatsgeschäfte, bei denen er die Haftpflicht und die Selbstbeteiligung jeweils einzeln errechnet habe.

Das Finanzamt hat die Rückstellungen nicht anerkannt. Auch im Einspruchsverfahren sind sie für unzulässig angesehen worden. Es müßten zumindest Gründe vorliegen, die die Annahme bestimmter Verluste rechtfertigten. Es fehlten Anhaltspunkte dafür, daß mit dem Eintritt von Verlusten zu rechnen sei. Im Ergebnis handle es sich um einkommensteuerrechtlich unzulässige Rücklagen für eine Selbstversicherung des Stpfl. wegen zu befürchtender Haftpflichtverbindlichkeiten.

Das Finanzgericht ist zu dem gleichen Ergebnis wie das Finanzamt gekommen. Die von dem Stpfl. in den Bilanzen II/1948 und 1949 ausgewiesenen Rückstellungen für etwaige Haftpflichtverbindlichkeiten seien steuerliche nicht zulässig. Die Bildung derartiger Passivposten setze voraus, daß der Stpfl. mit der Verwirklichung der Verbindlichkeiten zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit habe rechnen müssen. Es genüge nicht, daß die Möglichkeit der Inanspruchnahme bestehe. Es müsse vielmehr die Gefahr der Rückgriffshaftung erkennbar entstanden sein. Das sei aber nach dem eigenen Vorbringen des Stpfl. nicht der Fall. Kein früherer Auftraggeber habe in irgendeiner Form seinen Willen zu erkennen gegeben, einen aus einer unrichtigen Beurkundung etwa erwachsenen Schaden dem Notar gegenüber geltend zu machen. Aber auch aus dem Gesichtspunkt der Selbstversicherung könnten die Rückstellungen für etwaige Haftpflichtverbindlichkeiten nicht anerkannt werden. Das tatsächliche Verhalten des Stpfl. laufe auf eine solche Selbstversicherung hinaus, da er nach seiner eigenen Angabe etwa eintretende Schäden in gewissem Umfang selbst decken müsse. Dies könne aber nur an dem ungünstigen Tarif liegen, den der Stpfl. beim Abschluß des Versicherungsvertrages gewählt habe. Was der Stpfl. durch Abschluß eines im Schadensfall für ihn ungünstigen Versicherungsvertrages erspare, könne er nicht im Wege der Rückstellung gewinnmindernd zur Kapitalbildung verwenden, um so im Falle der Inanspruchnahme in der Lage zu sein, den Unterschiedsbetrag zwischen Versicherungsleistung und Schadenshöhe auszugleichen.

In der Rechtsbeschwerde macht der Stpfl. unter Wiederholung seines bisherigen Vorbringens und unter überreichung eines Rechtsgutachtens mangelndes rechtliches Gehör und Verletzung des materiellen Rechtes im Hinblick auf die Nichtanerkennung der in den Bilanzen II/1948 und 1949 ausgewiesenen Rückstellungen für drohende Haftpflichtverbindlichkeiten geltend.

 

Entscheidungsgründe

Die Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung der Vorentscheidung. Schon das Verfahren der Vorinstanz ist nicht bedenkenfrei. Der Stpfl. hatte mit Schriftsatz vom 13. Juli 1953 gegen die Einspruchsentscheidung vom 11. Juni 1953 Berufung eingelegt, die dem Finanzgericht mit Schreiben vom 4. August 1953 vorgelegt worden ist. Erst mit Schreiben des Kammervorsitzenden vom 16. Februar 1955, d. h. nach mehr als 1 1/2 Jahren, wurde der Stpfl. aufgefordert, möglichst binnen einer Woche bestimmte Angaben über die Höhe der gegen ihn in den Jahren II/1948 und 1949 erhobenen Haftpflichtansprüche zu machen. Mit Schreiben vom 18. Februar 1955 bat der Stpfl., das Verfahren mit Rücksicht auf die zwischen der Gemeinschaft des Deutschen Notariats und dem Landesfinanzministerium schwebenden Verhandlungen einstweilen auszusetzen; für den Fall, daß die Aussetzung des Verfahrens nicht möglich sei, bat er um eine Frist von vier Wochen, um gemeinsam mit dem Vertreter der Gemeinschaft des Deutschen Notariats die Sache dem Finanzgericht noch einmal grundsätzlich unterbreiten zu können.

Ohne eine Antwort zu erteilen, erließ das Finanzgericht 12 Tage später das angefochtene Urteil, dem der einstimmige Beschluß der Kammer auf Ablehnung des Antrages auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung unmittelbar vorherging. Auf das Schreiben des Stpfl. vom 18. Februar 1955 geht das Finanzgericht nur insoweit ein, als es ausführt, es habe kein Anlaß bestanden, das Verfahren mit Rücksicht auf die beim Landesfinanzministerium schwebenden Verhandlungen auszusetzen. Gegen das finanzgerichtliche Verfahren bestehen unter dem Gesichtspunkt der Gewährung ausreichenden rechtlichen Gehörs insofern erhebliche Bedenken, als die im Schreiben vom 16. Februar 1955 gesetzte Frist von einer Woche bei weitem zu kurz war und die vom Stpfl. erbetene Frist von vier Wochen unbeachtet gelassen worden ist. Aus den dem Schreiben des Stpfl. vom 18. Februar 1955 beigefügten Anlagen, nämlich den Schreiben der Gemeinschaft des Deutschen Notariats vom 27. Januar 1955 und einer Aktennotiz über eine Besprechung im Finanzministerium vom 26. Januar 1955, war das Finanzgericht darüber unterrichtet, daß weitere Rechtsausführungen zu dem streitigen Problem zu erwarten waren, die insbesondere durch die Vorlage eines Rechtsgutachtens erhärtet werden sollten. Ungeachtet dessen wurde dem Stpfl. keine Gelegenheit mehr zu weiteren Darlegungen gegeben, obwohl das Finanzgericht zu einer beschleunigten Erledigung der Berufungssache von keiner Seite, auch nicht vom beteiligten Finanzamt, gedrängt worden ist. Der Berufungsfall war mehr als 1 1/2 Jahre nach Eingang des Berufungsschriftsatzes unbearbeitet geblieben. Aber auch ohne dies wäre es geboten gewesen, dem Stpfl. für die Angabe der etwa geltend gemachten Haftungsansprüche eine mehr als einwöchige Frist zu gewähren und ihm noch Gelegenheit zu weiterer Stellungnahme innerhalb der von ihm erbetenen Frist zu geben. Das Verhalten des Finanzgerichts stellt eine Versagung ausreichenden rechtlichen Gehörs dar (vgl. Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland - GG -).

Darüber hinaus weist die Vorentscheidung einen Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten auf, der gemäß § 288 Ziff. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) von Amts wegen zu beachten ist. Das Finanzgericht sieht die vom Stpfl. vorgenommene Rückstellung als eine unter dem Gesichtspunkt der Selbstversicherung einkommensteuerlich nicht zu beachtende Rücklage für ungewisse Haftpflichtverbindlichkeiten an. Die Vorinstanz geht hierbei davon aus, daß der Stpfl. eine gewisse Selbstbeteiligung bei Schadensfällen bis zu 20.000 DM nur deshalb zu tragen verpflichtet sei, weil er einen für ihn insoweit ungünstigen Versicherungsvertrag geschlossen habe. Das ergibt sich aus den nachstehenden Ausführungen: "Was der Stpfl. durch Abschluß eines für den Schadensfall an sich für ihn ungünstigen Versicherungsvertrages an Beiträgen erspart, kann er nicht im Weg der Rückstellung gewinnmindernd zur Kapitalbildung verwenden, um so im Fall der Inanspruchnahme in der Lage zu sein, den Unterschiedsbetrag zwischen Versicherungsleistung und Schadenshöhe auszugleichen." Diese Darlegungen stehen im Widerspruch zu der in den Gründen der Einspruchsentscheidung erwähnten unstreitigen Tatsache, daß der Stpfl. nach seinen Angaben stets 20 bzw. 10 v. H. der Schadenssumme selbst tragen muß, weil insoweit keine Versicherungsgesellschaft den Versicherungsschutz übernimmt. Das gleiche ergibt sich aus dem bei den Bilanzakten befindlichen Bericht über die Prüfung des Jahresabschlusses 1952. Da aber die zur Selbstversicherung gemachten Ausführungen des Stpfl. nur zusätzlich zur Begründung für die ohnehin für ungerechtfertigt gehaltene Rückstellung verwertet worden sind, beruht das Urteil nicht ausschließlich auf dem festgestellten Verstoß wider den klaren Inhalt der Akten.

Der in der Versagung ausreichenden rechtlichen Gehörs liegende Verfahrensmangel ist wesentlich, da es nicht ausgeschlossen erscheint, daß das Finanzgericht zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. So sind in der Vorentscheidung die in dem Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 407/27 vom 12. August 1927 (Slg. Bd. 22 S 27, Reichssteuerblatt - RStBl - 1928 S. 5) vertretenen Grundsätze unbeachtet gelassen. Möglicherweise hätte der Stpfl. falls ihm noch Gelegenheit zu weiteren rechtlichen Darlegungen gegeben worden wäre, auf diese Entscheidung hingewiesen. Dies konnte nunmehr erst im Rechtsbeschwerdeverfahren geschehen. Nach dem genannten Urteil ist die Einsetzung eines Passivpostens zur Berücksichtigung von Haftpflichtverbindlichkeiten schon dann zulässig, wenn am Ende des Veranlagungszeitraumes Schadensersatzforderungen noch nicht geltend gemacht worden sind, nach den Umständen des Falles mit einer solchen Inanspruchnahme aber ernstlich zu rechnen ist. Es liegt zumindest nahe, daß das Finanzgericht bei Beachtung dieser Entscheidung den vorliegenden Sachverhalt rechtlich anders gewürdigt hätte. Dies genügt aber, um in dem Vorgehen des Finanzgerichts einen wesentlichen Verfahrensmangel zu erblicken.

Die Vorentscheidung unterliegt daher der Aufhebung. Die Sache ist nicht spruchreif. Sie wird zur erneuten Entscheidung an das Finanzgericht zurückverwiesen. Dieses wird dabei von folgenden Erwägungen auszugehen haben: Für den Regelfall wird es für die Bildung von Rückstellungen für Gewährleistungs- und Haftpflichtansprüche zutreffen, daß sich eine Inanspruchnahme erkennbar abzeichnen muß und daß dies in der Regel nur dann anzunehmen sein wird, wenn aus dem Verhalten früherer Auftraggeber die Absicht einer Inanspruchnahme erkennbar ist. Die von dem Stpfl. selbst und in dem von ihm vorgelegten Rechtsgutachten gemachten Ausführungen können jedoch, wenn die vorgetragenen Umstände tatsächlicher Art sich als richtig erweisen, unter Umständen zu einer anderen Beurteilung hinsichtlich der Passivierung von Haftpflichtverbindlichkeiten der Notare führen. Hierher dürfte das Vorbringen des Stpfl. bezüglich der sogenannten Spätschäden gehören, die sehr häufig erst 10 Jahre nach Durchführung der Beurkundung oder Beratung auftreten. Hierfür sprechen unter Umständen auch die Feststellungen der Versicherungsgesellschaften über einen starken Anstieg derartiger Haftpflichtverbindlichkeiten, insbesondere bei den sogenannten Spätschäden, derentwegen unter anderem die Rücklagen der Versicherungsgesellschaften erst nach 16 Jahren zur Auflösung gelangen. Das Ergebnis der Ermittlungen wird unter Beachtung der im Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 407/27 vertretenen Auffassung zu würdigen sein.

Ob und in welcher Höhe im Einzelfall eine Rückstellung zulässig ist, wird nach den Verhältnissen am Bilanzstichtag zu beurteilen sein. Schwierigkeiten werden sich hierbei daraus ergeben, daß zu dem genannten Zeitpunkt Erfahrungen über die voraussichtliche Höhe einer Inanspruchnahme unter Umständen noch nicht vorliegen. Es wird daher zweckmäßig sein, zu der Frage, ob die Rückstellung dem Grunde und der Höhe nach berechtigt ist, die beruflichen Standesorganisationen zu hören sowie sich der mit diesem Versicherungszweig befaßten Versicherungsgesellschaften zu bedienen. Bei der Höhe der Rückstellung wird man eine Verschärfung der Haftungssituation infolge Unübersichtlichkeit des geltenden Rechtes und mangelnder Dokumentationskraft des Grundbuches sowie auch den Umfang des Ausschlusses des Versicherungsschutzes durch die Versicherungsgesellschaften nicht außer acht lassen dürfen. Für die Höhe der Rückstellung kann der Versicherungsbeitrag als Anhaltspunkt dienen, der aufgewendet werden müßte, wenn eine Versicherungsgesellschaft einen 100 - prozentigen Versicherungsschutz gewähren würde.

Ferner wird bei der erneuten Entscheidung zu prüfen sein, ob nicht bereits in der Eröffnungsbilanz zum 21. Juni 1948 ein entsprechender Posten einzusetzen war.

 

Fundstellen

Haufe-Index 409110

BStBl III 1958, 345

BFHE 1959, 192

BFHE 67, 192

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