Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschäftsführerhaftung
Leitsatz (NV)
1. Der Geschäftsführer verletzt die ihm obliegende Sorgfaltspflicht, wenn er seinem Beauftragten freie Hand läßt und praktisch eine Aufsichtspflicht weder erfüllt noch auch nur organisatorische Vorkehrungen für eine solche Überwachung trifft.
2. § 109 Abs. 1 AO kann nicht entgegen seinem Wortlaut einengend dahin verstanden werden, daß die Haftung auch bei Erfüllung sämtlicher Tatbestandsmerkmale entfällt, wenn der Vertreter von seiner Befugnis nach § 107 AO Gebrauch gemacht hat.
Normenkette
AO §§ 107, 109
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger des erstinstanzlichen Verfahrens (T) ist während des Revisionsverfahrens verstorben. Die Erben setzten den Prozeß fort. T war in den Streitjahren alleinvertretungsberechtigter Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH. Weiterer Gesellschafter der GmbH war Sch. Die GmbH führte als Komplementärin die Geschäfte einer KG, deren Kommanditisten T und Sch waren. Sch besaß für beide Gesellschaften Einzelprokura und war u. a. mit der Erledigung der Umsatzsteuerangelegenheiten für die KG in den Streitjahren beauftragt.
Mit Schreiben vom 16. März 1976 ließ T dem FA mitteilen, daß Sch die von der X für die KG ausgedruckten Umsatzsteuervoranmeldungen für mehrere Voranmeldungszeiträume in 1974 und 1975 nicht dem FA eingereicht habe. Für diese Voranmeldungszeiträume hatte das FA wegen Nichtabgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen die Besteuerungsgrundlagen geschätzt. Diese erwiesen sich als erheblich zu niedrig. Aufgrund der am 19. März 1976 eingereichten Umsatzsteuervoranmeldungen ergab sich für 1974 ein Mehrbetrag von 30 246 DM und für 1975 ein Mehrbetrag von 87 219 DM. Aufgrund des von Sch am 19. März 1976 gestellten Stundungsantrags stundete das FA mit Verfügung vom 15. April 1976 u. a. die Umsatzsteuerrückstände 1974 und 1975 gegen Ratenzahlungen. Am 17. März 1976 schied T als Geschäftsführer aus und an seine Stelle trat Sch. Im Juli 1976 wurde die Stundung wegen Nichteinhaltung der Ratenzahlungen widerrufen. Ein Ende 1976 für die Gesellschaften gestellter Antrag auf Konkurseröffnung wurde mangels Masse abgelehnt. Mit Haftungsbescheid vom 31. Mai 1977 nahm das FA T wegen der verbliebenen Umsatzsteuerrückstände für 1974 und 1975 nach §§ 103, 105, 109, 111, 118 der Reichsabgabenordnung (AO) in Anspruch. Gleichzeitig erging gegen Sch ein Haftungsbescheid über die gleichen Beträge. Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte im wesentlichen keinen Erfolg.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Der rechtliche Ausgangspunkt des FG ist nicht zu beanstanden. Die Frage der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Haftungsbescheids ist nach Art. 97 § 11 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) noch nach dem Recht der AO zu entscheiden. Nach § 109 Abs. 1 AO haften neben dem Steuerpflichtigen dessen Vertreter insoweit persönlich, als sie durch schuldhafte Verletzung der ihnen in den §§ 103 bis 108 AO auferlegten Pflichten Steueransprüche verkürzt haben. Die gesetzlichen Vertreter juristischer Personen haben nach § 103 Satz 1 AO alle Pflichten zu erfüllen, die den Personen, die sie vertreten, obliegen, und insbesondere dafür zu sorgen, daß die Steuern aus den Mitteln, die sie verwalten, entrichtet werden. T war alleiniger Geschäftsführer der GmbH und damit deren gesetzlicher Vertreter (§ 35 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung - GmbHG -). Da die GmbH ihrerseits Geschäftsführerin der KG war, hatte T auch die der KG obliegenden steuerlichen Verpflichtungen zu erfüllen (§ 105 Abs. 1 AO).
Das FG hat zu Recht entschieden, daß die Tatbestandsvoraussetzungen des § 109 AO erfüllt sind.
T war (alleiniger) Geschäftsführer der Komplementär-GmbH. Ihn persönlich traf nach §§ 103, 105 AO die Pflicht, für die Entrichtung der Steuern aus den Mitteln der KG zu sorgen. Er hatte diese Pflicht gewissenhaft und sachgemäß zu erfüllen. Er war zwar, wie das FG zu Recht ausgeführt hat, nicht verpflichtet, die steuerlichen Angelegenheiten der KG ohne Einschränkung selbst zu erledigen, sondern vielmehr befugt, die Erledigung im Einzelfall oder durch allgemeine Anordnung anderen zu übertragen. Er konnte sich aber damit allein nicht begnügen, etwa mit dem Hinweis, er habe den Beauftragten sorgfältig ausgewählt. Die Erfüllung der Pflicht nach §§ 103, 105 AO erforderte von ihm darüber hinaus eine Überwachung der in Frage kommenden Mitarbeiter (vgl. z. B. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 69 AO 1977 Anm. 12 Abs. 4, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Dabei kann es im Grundsatz keinen Unterschied machen, ob es sich bei diesen Mitarbeitern um Prokuristen oder mit geringeren Vollmachten ausgestattete Mitarbeiter handelte.
Es kann im vorliegenden Fall offenbleiben, welche Überwachungsmaßnahmen im einzelnen vom Geschäftsführer erwartet werden können. Die Beurteilung dieser Frage hängt weitgehend von den Umständen des Einzelfalles ab. Der Geschäftsführer verletzt jedenfalls die ihm obliegende Sorgfaltspflicht, wenn er seinem Beauftragten freie Hand läßt und praktisch eine Aufsichtspflicht weder ausübt noch auch nur organisatorische Vorkehrungen für eine solche Überwachung trifft. So aber liegt es nach den Feststellungen des FG im vorliegenden Fall. An diese Feststellungen ist der erkennende Senat gebunden, da die Kläger zulässige und begründete Revisionsrügen nicht vorgetragen haben (vgl. § 118 Abs. 2 FGO).
Die Rüge der Kläger, das FG habe die Frage des Geschäftsumfangs der KG nicht untersucht, ist nicht zulässig erhoben worden. Die Kläger haben nicht die Tatsachen bezeichnet, die den Mangel ergeben (§ 120 Abs. 2 FGO). Es fehlt die Angabe, daß entsprechender Beweis angetreten worden ist oder wenigstens entsprechende Tatsachen vorgetragen worden sind, denen das Gericht hätte nachgehen müssen; die Kläger haben auch nicht dargelegt, weshalb die Vorentscheidung auf dem gerügten Verfahrensfehler beruhen kann und was das Ergebnis einer etwaigen Beweisaufnahme vermutlich gewesen wäre (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 120 Anm. 20, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Überdies ist die erhobene Rüge auch unbegründet. Denn die vom FG festgestellte Tatsache, daß T die Erfüllung der steuerlichen Pflichten durch Sch praktisch nicht überwacht hat, begründet ein Verschulden des T auch dann, wenn man die Richtigkeit der Behauptungen der Kläger über den Geschäftsumfang der KG unterstellt.
Der Vortrag der Kläger, eine gezielte Unterschlagungsprüfung habe von T nicht erwartet werden können, mag zutreffen. Darauf kommt es aber nicht an. Das FG hat jedenfalls keinen Rechtsfehler begangen, indem es angenommen hat, daß von T eine Überwachung des Sch erwartet werden konnte und er eine solche Überwachung nicht durchgeführt hat.
Die Kläger wenden sich gegen die Feststellungen des FG, daß von T in der mündlichen Verhandlung eingeräumt worden sei, die KG wäre seinerzeit in der Lage gewesen, die richtigen Umsatzsteuervorauszahlungen für die strittigen Voranmeldungszeiträume zu leisten. Sie meinen, diese Behauptung könne so nicht akzeptiert werden. Sie wenden sich damit aber gegen Feststellungen des FG, die für den erkennenden Senat bindend sind, da die Kläger zulässige und begründete Revisionsrügen dagegen nicht vorgetragen haben (§ 118 Abs. 2 FGO).
Zu Unrecht berufen sich die Kläger auf § 107 Abs. 1 AO. Diese Vorschrift ändert nichts an der Haftungsvorschrift des § 109 Abs. 1 AO. Danach haftet der Vertreter, wenn er selbst schuldhaft seine steuerlichen Pflichten verletzt und dadurch Steueransprüche verkürzt. Dies gilt auch dann, wenn er nach § 107 Abs. 1 AO einen Bevollmächtigten bestellt hat. Es ist kein Grund ersichtlich, warum § 109 Abs. 1 AO entgegen seinem Wortlaut einengend dahin verstanden werden sollte, daß die Haftung auch bei Erfüllung sämtlicher Tatbestandsvoraussetzungen entfällt, wenn der Vertreter von seiner Befugnis nach § 107 AO Gebrauch gemacht hat. Wortlaut, Sinn und Zweck des § 109 Abs. 1 AO stehen einer solchen Interpretation entgegen. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH sind die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters nach §§ 103, 105 AO öffentlich-rechtlicher Natur und können daher nicht durch privatrechtliche Abmachungen zwischen Vertreter und Vertretenen eingeschränkt oder beseitigt werden (vgl. z. B. Urteil vom 21. Mai 1969 I R 8/68, BFHE 96, 39, BStBl II 1969, 539).
Zu Recht hat das FG die Ermessensentscheidung des FA nicht beanstandet. Ein Ermessensfehler liegt auch nicht darin, daß das FA nicht allein Sch als Haftenden in Anspruch genommen hat. Das FG hat ohne Rechtsirrtum entschieden, daß, da T seine Pflichten grob fahrlässig verletzt hat, seine Inanspruchnahme grundsätzlich gerechtfertigt ist (BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508).
Das FG hat schließlich auch zutreffend entschieden, daß die Inanspruchnahme des T nicht deswegen ermessensfehlerhaft war, weil das FA auf Antrag des Sch mit Verfügung vom 15. April 1976 für die Umsatzsteuerrückstände 1974 und 1975 gegen Ratenzahlung Stundung gewährt hatte. Der Haftungstatbestand des § 109 Abs. 1 AO war bereits vor dieser Stundungsentscheidung des FA erfüllt; denn nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist ein Steueranspruch i. S. des § 109 Abs. 1 AO schon dann verkürzt, wenn die am Fälligkeitstag zu zahlenden Steuerbeträge nicht rechtzeitig an die Finanzkasse abgeführt werden. Die Umsatzsteuervorauszahlungen 1974 und 1975 waren lange Zeit vor der Entscheidung des FA über den Stundungsantrag am 15. April 1976 fällig geworden.
Fundstellen
Haufe-Index 413839 |
BFH/NV 1986, 61 |