Rz. 57

Abs. 7 regelt Sonderfälle, in denen über die vorläufige Erbringung von Geld- und Sachleistungen entschieden werden kann. Abs. 7 ist der Vorschrift des § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB III nachgebildet und regelt die Fallkonstellationen, in denen nicht wegen tatsächlicher, sondern wegen rechtlicher Unwägbarkeit eine vorläufige Leistungsbewilligung angezeigt sein kann.

 

Rz. 58

Nach Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 ist vorläufige Leistung möglich, wenn die Vereinbarkeit einer Vorschrift des SGB II, von der die Entscheidung über den Antrag abhängt, mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens beim BVerfG oder dem EuGH ist. Mit "Vorschrift des SGB II" sind Vorschriften gemeint, die im SGB II verortet sind, aber auch solche Vorschriften anderer Sozialgesetzbücher oder anderer Gesetze, auf die das SGB II verweisen oder diese für anwendbar erklären (ebenso Kemper in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, § 41a Rz. 77).

 
Praxis-Beispiel

Vorlagebeschluss des SG Mainz v. 18.4.2016 (S 3 AS 149/16) an das BVerfG zur Frage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der bis zum 28.12.2016 geltenden Fassung mit Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 GG im Einklang steht. Eine vorläufige Leistungsgewährung nach Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 ist zulässig (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 16.2.2017, L 8 SO 344/16 B ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 26.4.2017, L 1 AS 854/17 ER B; a. A. SG München, Beschluss v. 26.4.2017, S 46 AS 843/17 ER).

Allerdings ist nach Auffassung des LSG Nordrhein-Westfalen nicht allein entscheidend, dass ein Verfahren vor dem BVerfG oder dem EuGH anhängig ist. Das LSG Nordrhein-Westfalen hat vielmehr auch die Wahrscheinlichkeit geprüft, dass nach einer Entscheidung des BVerfG eine streitentscheidende Norm des SGB II nicht mehr angewandt werden darf (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 26.2.2018, L 19 AS 249/18 B ER). Die Möglichkeit der vorläufigen Entscheidung nach Nr. 1 besteht grundsätzlich nur bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem BVerfG oder dem EuGH, kann aber auch darüber hinausgehen. Dies betrifft etwa die Fallkonstellationen, in denen eine Norm für verfassungswidrig erklärt wurde, das BVerfG dem Gesetzgeber aber eine bestimmte Frist gesetzt hat, innerhalb derer der verfassungswidrige Zustand geheilt werden muss (ebenso Kemper, in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, § 41a Rz. 78).

 

Rz. 59

Satz 1 Nr. 2 ermöglicht eine vorläufige Erbringung von Sach- und Geldleistungen, wenn eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung Gegenstand eines Verfahrens beim BSG ist. Im Gegensatz zu Nr. 1 betrifft Nr. 2 nicht nur Vorschriften des SGB II, sondern auch alle anderen Vorschriften, soweit sie für die Erbringung von Geld- und Sachleistungen nach dem SGB II von Relevanz sind. Die Voraussetzungen für eine vorläufige Entscheidung nach Nr. 2 liegen schon dann vor, wenn die Entscheidung dieser Frage Auswirkungen auf die Entscheidung über Sach- und Geldleistungen hat (LSG Bayern, Beschluss v. 18.1.2021, L 16 AS 654/20 B ER).

 

Rz. 60

Im Gegensatz zu Abs. 1 handelt es sich bei den Fällen des Abs. 7 um eine Ermessensentscheidung des Grundsicherungsträgers (Bay. LSG, Beschluss v. 2.8.2017, L 8 SO 130/17 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 26.2.2018, L 19 AS 249/18 B ER; Merten, in: BeckOK, SGB II, § 41a Rz. 12; Kemper, in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, § 41a Rz. 80; Kallert, in: Gagel, SGB II, § 41a Rz. 119). Es wird kein unmittelbarer Anspruch auf vorläufige Leistungen vermittelt (LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 26.4.2017, L 1 AS 854/17 ER B). Das Ermessen bezieht sich sowohl auf das "Ob" der Leistungsbewilligung (Entschließungsermessen) als auch auf die Höhe der Leistungsbewilligung (Auswahlermessen) (LSG Bayern, Beschluss v. 18.1.2021, L 16 AS 654/20 B ER; Merten, in BeckOK, SGB II, § 41a Rz. 12). Es besteht lediglich ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. Dies gilt jedenfalls für die Entscheidung, ob die Leistung vorläufig gewährt wird (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 26.5.2017, L 15 AS 62/17 B ER, mit Hinweis auf Conradis, in: LPK-SGB II, § 41a Rz. 3). Ein Anspruch kann nur in den Fällen bestehen, in denen eine Verdichtung des Ermessens zu einem Anspruch im Wege der Ermessensreduzierung auf Null gegeben ist (Kallert, in: Gagel, SGB II, § 41a Rz. 119; LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 26.4.2017, L 1 AS 854/17 ER-B, mit Hinweis auf BSG, Urteil v. 10.5.2011, B 4 AS 139/10 R; ebenso LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 16.2.2017, L 8 SO 344/16 B ER, und Beschluss v. 18.4.2017, L 13 AS 113/17 B ER). Das ist dann der Fall, wenn das Ermessen nur in einem bestimmten Sinne ausgeübt werden kann und jede andere Entscheidung fehlerhaft wäre (LSG Bayern, Beschluss v. 18.1.2021, L 16 AS 654/20 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 26.5.2017, L 15 AS 62/17 B ER).

 

Rz. 61

Wesentlicher Gesichtspunkt einer Ermessensreduzierung auf Null kann dabei nach einer Reihe von Gerichtsentscheidungen in der anderenfalls drohenden Verletzung des Grundrechts auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums...

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