Rz. 4

Anlass und Ausgangspunkt für die Einräumung der Handlungsfähigkeit im Sozialrecht war die unbeschränkte zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit für mit einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis zusammenhängende Rechtsgeschäfte (§ 113 Abs. 1 BGB). Da mit Dienst- oder Arbeits-/Ausbildungsverhältnissen Sozialversicherungspflicht mit entsprechenden Beitragspflichten verbunden ist, war es lediglich konsequent, für die daraus resultierenden sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche gleichfalls die Handlungsfähigkeit vorzusehen.

 

Rz. 5

Da zur Zeit des Inkrafttretens der Regelung im Alter von 15 Jahren typischerweise eine Berufstätigkeit begonnen wurde, war der Zeitpunkt der Handlungsfähigkeit entsprechend auf die Vollendung des 15. Lebensjahres (d. h. den Tag des 15. Geburtstags gemäß § 187 Abs. 2 BGB) festgelegt. Wenngleich die Regelung vor diesem konkreten sozialversicherungsrechtlichen Hintergrund erfolgte, ist sie jedoch nicht auf den Bereich der Sozialversicherung beschränkt worden, sondern gilt für alle Bücher des SGB und die nach § 68 als besondere Teile des SGB geregelten Gesetze.

 

Rz. 6

Der Begriff der Handlungsfähigkeit im Sozialrecht beinhaltet im wesentlichen den zivilrechtlichen Aspekt der Rechtsfähigkeit, da er die Fähigkeit zur wirksamen Stellung von Anträgen als einseitige anspruchsauslösende Rechtshandlung (§ 107 BGB) als auch die Wirksamkeit zur Entgegennahme von Leistungen beinhaltet, mit der der Anspruch dann auch erfüllt ist (§ 362 BGB, vgl. BSG, Beschluss v. 4.2.1991, 13/5 BJ 269/90). Für den Fall der Wirksamkeit von notwendigen anspruchsauslösenden Anträgen auf Sozialleistungen würde sich die Handlungsfähigkeit wohl bereits aus § 107 BGB als einseitige rechtsgeschäftliche Erklärung ergeben, da Sozialleistungen im Regelfall keine Gegenleistung begründen oder auslösen und daher lediglich vorteilhaft sind. Daher war z. B. in der gesetzlichen Krankenversicherung zuvor keine Regelung für die Handlungsfähigkeit im Zusammenhang mit einer Pflichtversicherung und zur Entgegennahme von Sachleistungen vorgesehen und erforderlich und hätte auch nicht der Unterstellung der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters für die wirksame Antragstellung bedurft, zumal das kraft Gesetzes ent- und bestehende Pflichtversicherungsverhältnis nicht von Geschäftsfähigkeit abhängig ist.

2.1.1 Anträge auf Sozialleistungen

 

Rz. 7

Die Fähigkeit zur Beantragung von Sozialleistungen ist ganz allgemein vorgesehen, so dass es sich sowohl um solche Anträge handeln kann, die erst mit dem Antrag entstehen (vgl. Komm. zu § 38), als auch um solche, bei denen der Antrag lediglich verfahrensauslösende Wirkung hat (vgl. Komm. zu § 19 SGB IV) oder lediglich einen Anlass für ein Tätigwerden des Leistungsträgers darstellt (z. B. in der gesetzlichen Unfallversicherung, bei der Sozialhilfe oder im Kinder- und Jugendhilferecht). Unter Antrag ist jedes hinreichend deutlich zum Ausdruck gebrachte Leistungsbegehren zu verstehen (vgl. Komm. zu § 16). Keine Anwendung findet § 36, wenn es sich um erforderliche tatsächliche Handlungen des 15jährigen handelt (z. B. Arbeitslosmeldung oder Übersendung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung); denn die Erfüllung dieser Handlungen als Tatbestandsvoraussetzungen eines sozialrechtlichen Anspruchs setzen keine Rechtsfähigkeit voraus (für eine analoge Anwendung der Vorschrift, vgl. Lilge, SGB I, 4. Aufl., § 36 Rz. 31, besteht daher keine Notwendigkeit).

 

Rz. 8

Hat der Antrag leistungsbegründende oder Leistungszeit bestimmende Wirkung (z. B. in der Rentenversicherung), ist die Antragstellung durch den Handlungsfähigen für den Beginn der Leistung maßgebend. Auch die Antragstellung des nach § 36 Handlungsfähigen bei einem unzuständigen Leistungsträger hat fristwahrende Wirkung (§ 16 Abs. 2 Satz 2).

 

Rz. 9

Es muss sich um einen Antrag auf eine Sozialleistung (§ 11) handeln, die dem Minderjährigen als eigener Anspruch zusteht; denn nur dafür ist er auch antragsberechtigt. Es kann sich dabei insbesondere um Ansprüche aus einem eigenen Versicherungsverhältnis (z. B. als Versicherter in der gesetzlichen Kranken-, Renten-, Pflege-, Arbeitslosen- oder Unfallversicherung, einem abgeleiteten Versicherungsverhältnis (z. B. Familienversicherung in der Kranken- oder Pflegeversicherung) oder sonstige eigene Ansprüche handeln (z. B. als Hinterbliebener eines Versicherten bzw. Ansprüche auf Ausbildungsförderung). Nur für solche eigenen Ansprüche bestehen auch die Verfahrensrechte zur Durchsetzung des Anspruchs (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 SGB X, § 71 Abs. 2 SGG, § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO). Verfahrensrechtlich ergibt sich daraus, dass der Handlungsfähige selbst im Verfahren Beteiligter und ihm der Bescheid zuzustellen ist; dies selbst dann, wenn der Antrag vom gesetzlichen Vertreter gestellt wurde; dieser ist jedoch nach Satz 2 zu unterrichten. Dagegen handelt es sich nicht um die Geltendmachung eigener Ansprüche auf Sozialleistungen, wenn ein Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X eingeleitet wird oder nach §§ 45, 48 SGB X die Aufhebung von Verwaltungsakten den Verfahrensgegenstand bildet (so ...

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