Rz. 20

Abs. 1 Satz 2 beinhaltet eine eigenständige Regelung, wann ein Kind oder ein Jugendlicher von einer seelischen Behinderung bedroht sind. Mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) v. 3.6.2021 (BGBl. I S. 1444) wurden in Abs. 1 Satz 2 die Wörter "dieses Buches" durch die Wörter "dieser Vorschrift" ersetzt (BR-Drs. 5/21 S. 79 = BT-Drs. 19/26107 S. 83). Damit einher ging die Neueinfügung eines § 7 Abs. 2, der u. a. in seinem Satz 2 eine Generalnorm für das gesamte SGB VIII beinhaltet, wann Kinder, Jugendliche, junge Volljährige und junge Menschen von Behinderung bedroht sind. Der Gesetzgeber hat mit der Änderung des Abs. 1 Satz 2 auf diese Neuregelung in § 7 Abs. 2 Satz 2 reagiert. Es handelt sich daher bei der Änderung des Abs. 1 Satz 2 um eine Folgeänderung der Klarstellung in § 7 zum Behinderungsbegriff im SGB VIII (BR-Drs. 5/21 S. 79 = BT-Drs. 19/26107 S. 83). Deshalb ist in Ergänzung zu § 7 Abs. 2 Satz 2 normspezifisch von einem Drohen der seelischen Behinderung i. S. dieser Vorschrift auszugehen, wenn beim Kind oder beim Jugendlichen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Eine Rechtsänderung geht mit der Neufassung indes nicht einher. Es kann daher auch künftig auf ältere Rechtsprechung zurückgegriffen werden, um dem Begriff "Drohen" Kontur zu verleihen.

 

Rz. 21

Mit § 35a Abs. 1 Satz 2 verfolgt der Gesetzgeber namentlich das Ziel, die Kostenlast auf den Träger der öffentlichen Jugendhilfe durch die Anhebung der Anspruchsschwelle bei drohender seelischer Behinderung zu dämpfen (vgl. Zweite Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend v. 1.6.2005 zur BT-Drs. 15/5616). Hierfür sind die Leistungsvoraussetzungen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche konkretisiert und der Definition der seelischen Behinderung in § 53 Abs. 2 SGB XII – der übergangsrechtlich durch § 99 SGB IX ab 1.1.2020 bis zumindest 31.12.2022 weiter Anwendung findet (vgl. bereits oben Rz. 6) - angepasst worden. Der Gesetzgeber trägt damit dem Umstand Rechnung, dass der in § 2 SGB IX vorgegebene Behinderungsbegriff eine Vielzahl wertender Elemente enthält. Der Begriff "drohende Behinderung" ist in § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB IX so unterdessen enger formuliert. Nach § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB IX sind Menschen dann von einer Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist. Damit knüpft § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB IX für das Merkmal "von einer Behinderung bedroht" für die zu erwartenden Beeinträchtigung nunmehr ausdrücklich an den Begriffsmerkmalen der Behinderung i. S. d. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX an; der Gesetzgeber hat mit der Novelle des Bundesteilhabegesetzes den insoweit offenen Begriff, der ganz allgemein nur eine zu erwartende Beeinträchtigung voraussetzte, aufgegeben zugunsten eines deutlich konturierteren Begriffs und verknüpft den Begriff der Beeinträchtigung daher mit der Frage der gleichberechtigten Teilhabe. Der Begriff hat sich daher dem jugendhilferechtlichen Begriff der Bedrohung angenähert; die Bedrohung mit einer seelischen Behinderung setzt i. S. d. § 35a Abs. 1 Satz 2 ebenfalls voraus, dass für den Betroffenen eine Beeinträchtigung seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. i.E. v. Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 35a Rz. 54). Bezugspunkt der Beeinträchtigung ist damit wie bei der Funktionsbeeinträchtigung i. S. d. § 35a Abs. 1 Nr. 2 die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Bewertung erfolgt nach fachlicher Erkenntnis, für die § 35a Abs. 1a strukturierte Vorgaben macht. Der Grad der Wahrscheinlichkeit, der im Rahmen einer Prognose zu beurteilen ist, liegt unterdessen auf dem gleichen Niveau wie bei § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB IX. Soweit in der Literatur die Auffassung vertreten wird, dass im Anwendungsbereich des § 2 SGB IX ein geringerer Wahrscheinlichkeitsmaßstab für das "erwarten" einer Teilhabebeeinträchtigung erforderlich ist (so etwa Luthe, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl. 2018, § 2 Rz. 105 – der einen überwiegenden Grad an Wahrscheinlichkeit als Maßstab anlegt; und auch v. Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 35a Rz. 54) so ist dem wegen des Verweises des § 2 Abs. 1 Satz 3 auf Satz 1 SGB IX nicht zu folgen. Im Ergebnis kommt es im Anwendungsbereich des § 35a aber auch nicht darauf an. Der Gesetzgeber fordert nämlich nach Abs. 1 Satz 2 ausdrücklich beim jugendhilferechtlichen Begriff der Bedrohung einer seelischen Behinderung, dass eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Die Rechtsprechung verlangt eine Eintrittswahrscheinlichkeit von wesentlich mehr als 50 % (Thüringer Oberverwaltungsgericht, Beschluss v. 22.5.2018, 3 EO 192/18 Rz. 33; vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 17.2.2016, 4...

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