Rz. 2

Die Vorschrift nennt abschließend die Gründe für die Bestellung eines besonderen Vertreters. Voraussetzung nach Abs. 1 ist zunächst die Prozessunfähigkeit eines Beteiligten. Prozessunfähigkeit liegt dann vor, wenn sich der Betroffene in einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet (LSG NRW, Beschluss v. 13.12.2010, L 12 SO 208/10 B). Die Prozessfähigkeit ist Sachurteilsvoraussetzung und von Amts wegen festzustellen (BSG, Beschluss v. 30.9.2009, B 9 SB 10/09 B). Die Entscheidung über die Prozessfähigkeit i. S. d. § 71 Abs. 1 SGG, an den § 72 Abs. 1 mit der Verpflichtung zur Bestellung eines besonderen Vertreters anknüpft, obliegt der tatrichterlichen Würdigung (BSG, Urteil v. 5.5.2010, B 6 KA 49/09 B). Dies ist gegebenenfalls durch ein Gutachten und die Anhörung des Beteiligten zu klären. Weitere Voraussetzung für die Bestellung eines besonderen Vertreters ist das Fehlen eines gesetzlichen Vertreters.

 

Rz. 3

Das Sozialgericht kann auch die Bestellung eines gesetzlichen Vertreters selbst veranlassen, ist hierzu aber nicht verpflichtet (vgl. BSG, Urteil v. 28.5.1957, 3 RJ 98/54, BSGE 5 S. 176; BSG, Beschluss v. 19.9.1979, 9 BV 61/79, SozR 1500 § 160 Nr. 37).

 

Rz. 4

Eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Bestellung eines Vertreters durch das Vormundschaftsgericht ist nicht zulässig (Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 72 Rn. 2b; Peters/Sautter/Wolff, SGG, 4. Aufl. 10/2010, § 72 Rn. 1).

 

Rz. 5

An der Annahme der Prozessunfähigkeit ist das Sozialgericht nicht dadurch gehindert, dass das zuständige Vormundschaftsgericht die Bestellung eines Betreuers abgelehnt hat (BSG, Beschluss v. 3.7.2003, B 7 AL 216/02 B, SozR 4-1500 § 72 Nr. 1). Das Vormundschaftsgericht kann nicht für das Sozialgericht verbindlich über die Prozessfähigkeit entscheiden (BSG, a. a. O.; a. A. Zeihe, SGG, 8. Aufl. 11/2010, § 72 Rn. 5b m. w. N.).

 

Rz. 6

Ist eine Partei prozessunfähig, kann sie sich nicht eigenverantwortlich äußern. Ihr kann rechtliches Gehör wirksam deshalb nur durch die Anhörung eines gesetzlichen Vertreters gewährt werden (BSG, Urteil v. 5.5.1993, 9/9a RVg 5/92, SozR 3-1500 § 71 Nr. 1; hierzu Keller, SGb 1994 S. 559; LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 31.3.2009, L 13 R 392/07). Die Beteiligung allein des Prozessunfähigen reicht zur Wahrung des rechtlichen Gehörs nicht aus. Art. 103 Abs. 1 GG verlangt von den Gerichten, die unterlassene Gewährung rechtlichen Gehörs nachzuholen, sofern die Auslegung des Verfahrensrechts dies ermöglicht. Kommt das Gericht zu der Überzeugung, dass der Kläger nicht prozessfähig sei, muss es durch die weitere Verfahrensgestaltung sicherstellen, dass ihm das bisher fehlende rechtliche Gehör gewährt wird (BAG, Beschluss v. 28.5.2009, 6 AZN 17/09, NJW 2009 S. 3051; hierzu Kohte/Weber, jurisPR-ArbR 52/2009 Anm. 1).

 

Rz. 7

Die Bestellung ist nicht vor Rechtshängigkeit möglich, da § 72 Abs. 1 ausdrücklich von Beteiligten spricht (Leitherer, SGG, § 72 Rn. 2). Die Gegenansicht (vgl. Peters/Sautter/Wolff, SGG, § 72 Rn. 1) überzeugt angesichts des eindeutigen Wortlauts nicht. Die Bestellung wirkt nur bis zum Eintritt eines Betreuers fort (LSG NRW, Beschluss v. 5.2.2009, L 20 B 167/08 SO).

 

Rz. 8

Erfasst werden die Fälle, in denen die Prozessunfähigkeit vor der Rechtshängigkeit eingetreten ist, auch wenn sie erst im Prozess erkannt wird (LSG Sachsen, Beschluss v. 18.1.2008, L 3 B 434/06 AS; Leitherer, SGG, § 72 Rn. 2; Gehrlein, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 1. Aufl. 2010, § 57 Rn. 2).

 

Rz. 9

Ob § 72 Abs. 1 SGG auch dann zur Anwendung kommt, wenn die Prozessunfähigkeit erst während eines laufenden Prozesses eintritt, oder ob in diesem Fall ausschließlich § 202 SGG i. V. m. § 241 ZPO greift, wonach das Verfahren unterbrochen wird (so Leitherer, SGG, § 72 Rn. 2; Ulmer, in: Hennig, SGG, 8/2007, § 72 Rn. 5; Zeihe, SGG, 11/2010, § 72 Rn. 2a), ist umstritten. Hinsichtlich § 57 ZPO gilt: Verwirklicht sich die Prozessunfähigkeit erst nach Rechtshängigkeit, ist § 57 ZPO seinem Wortlaut nach nicht einschlägig, weil das Verfahren unterbrochen wird (§§ 239, 241, 246 ZPO). Zunehmend wird die Auffassung vertreten, dass diese Regelung wegen der vergleichbaren Interessenlage analog angewandt werden kann, mithin ein Vertreter nach § 57 ZPO zu bestellen ist (OLG Dresden, Beschluss v. 10.8.2005, 2 U 0290/05, ZIP 2005 S. 1845; OLG Köln, Beschluss v. 27.7.2005, 19 W 32/05; OLG Stuttgart, Beschluss v. 12.7.1995, 9 W 69/94, MDR 1996 S. 198; Stein/Jonas/Bork, ZPO, § 57 Rn. 2; Vollkommer, in: Zöller, ZPO, 29. Aufl. 2012, § 57 Rn. 3; Gehrlein, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, § 57 Rn. 2; a. A. Musielak/Weth, ZPO, 8. Aufl. 2011, § 57 Rn. 2; Hüßtege, in: Thomas/Putzo, ZPO, 32. Aufl. 2011, § 57 Rn. 3). Dem kann im Ergebnis für das SGG-Verfahren beigetreten werden. Nach § 202 SGG gelten die Vorschriften der ZPO nur entsprechend. Dies rechtfertigt es, nicht auf §§ 239, 241, 246 ZPO abzustellen, sondern § 72 Abs. 1 anzuwenden.

 

Rz. 10

Wenn sich nach Ausschöpfung sämtlicher Beweismöglichkeiten nicht feststellen ...

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