Leitsatz (amtlich)

1. Zu einer höhengleichen Kreuzungsanlage gehören auch die durch Verkehrsinseln von den Geradeausspuren getrennten Abbiegespuren (Eckausrundungen, Trichter).

2. Unterbricht ein Versicherter den über eine Kreuzungsanlage führenden üblichen Heimweg für eine privatwirtschaftliche Verrichtung unter zwei Stunden, lebt der Versicherungsschutz wieder auf, wenn der Versicherte die Kreuzungsanlage wieder erreicht hat.

 

Orientierungssatz

Bei der Beurteilung des Unfallversicherungsschutzes auf dem Heimweg von der Arbeitsstelle zur Wohnung muß es dem Versicherten ohne versicherungsrechtliche Nachteile überlassen bleiben, in welchem Bereich des öffentlichen Verkehrsraums er sich auf seinem Weg bewegt.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01; StVO § 8; FStrG § 13 Abs. 1

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 28.09.1978; Aktenzeichen L 3 U 372/78)

SG Gießen (Entscheidung vom 14.02.1978; Aktenzeichen S 3a U 97/76)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 28.September 1978 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägern auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob den Klägern Waisenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach ihrem am 4. November 1975 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückten Vater B E (E.) zusteht.

Der 1974 von der Mutter der Kläger geschiedene E. verließ am Unfalltag nach der von 14,00 Uhr bis 22,25 Uhr dauernden Spätschicht um 22,40 Uhr seine Arbeitsstelle bei M. H & S, O W AG in W, G-straße. Mit einem Moped fuhr er von der G-straße über den K Ring, die S-straße in Richtung N zum Gasthaus "Z", um dort noch eine Mahlzeit einzunehmen, anstatt an der Kreuzung vor Beginn der Sstraße in die E Straße rechts einzubiegen, um zu seiner Wohnung in der B-straße zu gelangen. Auf dem Rückweg von der Gaststätte bog er in die Kreuzung der Ss-traße mit der E Straße nach links ein und stieß dort gegen 23,45 Uhr mit einem Richtung N fahrenden Pkw zusammen. Dabei wurde er tödlich verletzt. Die Entfernung vom Unfallort bis zur Einbiegspur, die der Verunglückte sonst auf dem üblichen Heimweg aus Richtung K Ring kommend benutzte, betrug 10 bis 12 m. Der K Ring ist etwa 20 m breit. Die Blutalkoholkonzentration (BAK) des Verunglückten betrug um 0,35 Uhr 0,53 0/00. Die Wegstrecke von der Arbeitsstelle bis zur Wohnung des Verunglückten ist 2,4 km, die von der Unfallstelle bis zur Gaststätte 0,6 km lang. Die E Straße erreicht man vom K Ring durch zwei Rechtsabbiegerspuren - von den Geradeausspuren durch eine Verkehrsinsel getrennt -, die der E Straße gegenüber nicht bevorrechtigt sind. Von der E Straße kann man auf zwei Spuren in die S-straße einfahren. Daneben bestehen noch zwei Linksabbiegerspuren in den K Ring stadteinwärts. Die E Straße ist von der S-straße aus auf zwei Linksabbiegerspuren unter Beachtung der Vorfahrt des K Ringes zu erreichen.

Die Beklagte lehnte Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab (Bescheid vom 17. Mai 1976). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, den Klägern Waisenrente zu gewähren (Urteil vom 14. Februar 1978). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten unter Berichtigung des Urteilstenors des sozialgerichtlichen Urteils zurückgewiesen (Urteil vom 28. September 1978).

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) und beanstandet die Feststellung des LSG, der Verunglückte habe die Arbeitsstelle nach dem Eindruck auf der Stempelkarte erst um 22,40 Uhr verlassen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Hessischen LSG und das Urteil des SG Gießen aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.

Dem LSG ist entgegen der Auffassung der Beklagten darin zu folgen, daß den Klägern Waisenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zusteht (§§ 547, 550 Abs 1, 595 RVO). E. ist nämlich durch einen Arbeitsunfall nach § 550 Abs 1 RVO getötet worden. E. war nicht mehr versichert, als er seinen üblichen Heimweg verließ, um nach Spätschichtende in der Gaststätte "Z" zu essen. Der so unterbrochene Versicherungsschutz läßt sich nicht dadurch wiederherstellen, daß E., wie die Kläger geltend machen, nach der 8-Stunden-Schicht Nahrung zu sich nehmen mußte. Die Kläger verkennen, daß E. sich zu der Gaststätte nicht in einer für die Weiterarbeit notwendigen Arbeitspause zum Essen, sondern nach beendeter Arbeitsschicht begeben hatte (BSG SozR 2200 § 550 Nr 28). Die Essenseinnahme gehörte ausschließlich zum privaten, unversicherten Bereich.

Das LSG hat auch mit Recht dem von der Revision nicht mehr angeführten Gesichtspunkt einer alkoholbedingten Ursache des Verkehrsunfalls keine entscheidende Bedeutung zugemessen. Dafür hat der vom LSG festgestellte Sachverhalt bei einer BAK von 0,53 0/00 auch keinen Anhalt ergeben. Dies gilt in gleicher Weise auch dafür, daß E. ohne Führerschein und Schutzhelm gefahren ist. E. hätte zwar so verbotswidrig gehandelt. Dies schließt aber die Annahme eines Arbeitsunfalls nicht aus (§ 548 Abs 3 RVO). Ob E. die Arbeitsstelle etwa 15 Minuten früher als vom LSG angenommen verlassen hat, ist neues Tatsachenvorbringen der Beklagten und im Revisionsverfahren unbeachtlich (§ 163 SGG).

Entscheidend ist nämlich, ob der Vater der Kläger nach der Unterbrechung des Heimweges, ohne daß es zu einer Lösung von der versicherten Tätigkeit gekommen ist (bis zu zwei Stunden - BSG SozR 2200 § 550 Nr 27 -), an den üblichen Heimweg wieder angeknüpft hat. Dies ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSGE 20, 219, 221; USK 72, 723, 724) jedenfalls dann der Fall, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum wieder erreicht hat, den er für eine private Besorgung verlassen hatte. Dies gilt nicht nur, wenn lediglich eine so geringfügige, privaten Interessen dienende Tätigkeit eingeschoben wird, daß eine Unterbrechung des Versicherungsschutzes überhaupt nicht eintritt. Denn in diesen Fällen besteht auch während der gesamten, privaten Interessen dienenden Tätigkeit Versicherungsschutz, ohne daß es auf eine räumliche Abgrenzung ankommt (BSGE 20, 219, 221). Damit wird der Begriff der geringfügigen Unterbrechung nicht ausgedehnt, vielmehr wird allein auf den öffentlichen Verkehrsraum abgehoben. Dem Versicherten muß es ohne versicherungsrechtliche Nachteile überlassen bleiben, in welchem Bereich des öffentlichen Verkehrsraums er sich auf seinem Weg bewegt. Den geschützten öffentlichen Verkehrsraum hatte E. erreicht, als er in die Kreuzungsanlage S-straße/E Straße/K Ring einfuhr. Er war damit wieder auf dem Heimweg von der Arbeitsstelle zur Wohnung angelangt (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 3. Oktober 1962, Breithaupt 1964, 477; LSG Niedersachsen, Urteil vom 26. November 1963, Breithaupt 1964, 472; BSG Urteil vom 28. April 1967, BG 1967, 478).

Da das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht regelt, was eine Kreuzungsanlage ist, ist hierzu auf andere Vorschriften zurückzugreifen. Unter einer Kreuzung iS des Verkehrsrechts (§ 8 Straßenverkehrsordnung - StVO -) ist jede höhengleiche Kreuzung, Einmündung oder Gabelung von Straßen einschließlich der durch solche Kreuzungen, Einmündungen oder Gabelungen gebildeten Plätze zu verstehen (Booß, StVO, Kommentar, 2. Auf 1976, § 8 Nr 2 S 109). Kreuzungen sind auch Schnittflächen zweier oder mehrerer sich schneidender Fahrbahnen verschiedener Straßen, die sich jenseits, uU seitlich versetzt, fortsetzen (Jagusch, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl 1977, § 8 StVO RdNr 32; Müller, Straßenverkehrsrecht, Bd III, 22. Aufl 1973, § 8 RdNr 4). Die Schnittfläche der Straßen wird durch die Fluchtlinien der sich kreuzenden oder einmündenden Straßen ohne Rücksicht auf Fahrbahnbegrenzung und Zeichen 295 einschließlich der Radwege begrenzt. Bei trichterförmiger Erweiterung einer Einmündung umfaßt die Vorfahrtsregelung die ganze bis zu dem Endpunkt des Trichters erweiterte Fahrbahn der Vorfahrtstraße (Kramer, Straßenverkehrsrecht, Straßenverkehrsordnung Bd I, 2. Aufl 1977, § 8 RdNrn 34, 35, 36 und 39; Booß, aaO). Demgegenüber rechnet Jagusch (aaO RdNr 34 a) Straßenstücke und Beschleunigungsstreifen außerhalb der Schnittflächen nicht zur Kreuzung und bezeichnet sie als Gebilde eigener Art, die ausschließlich, so weit nötig, dem zügigen Einfädeln in den durchgehenden Verkehr dienen (andere Meinung Mühlhaus, DAR 75, 44). Wenn auch nicht zu verkennen ist, daß § 8 StVO unmittelbar nur Vorfahrtsregelungen für den Straßenverkehr enthält, sind doch die dort verwendeten Rechtsbegriffe "an Kreuzungen und Einmündungen" (Müller, aaO) und die Stimmen im einschlägigen Schrifttum dafür bedeutsam, wie für ihre Einordnung der öffentliche Verkehrsraum iS des Unfallversicherungsrechts abzugrenzen ist. Dabei kann auch das allgemeine Straßenrecht nicht unbeachtet bleiben. Danach gehören zu einer Kreuzungsanlage iS des § 13 Abs 1 Bundesfernstraßengesetz - FStrG - (BGBl I 2413/2908) nach der Verordnung über Kreuzungsanlagen im Zuge von Bundesfernstraßen (FStrKrV - BGBl I 2985 -) bei höhengleichen Kreuzungen ua der Anfang von Eckausrundungen, Trenn-, Seiten- und Randstreifen, Verkehrsinseln, Gehwege, Durchlässe etc, Sichtzeichenanlagen und Sichtfelder (§ 1 FStrKrV). Diese auf die Kostenlast abgestellten Straßenvorschriften lassen zumindest die Folgerung zu, wie Kreuzungsanlagen räumlich abzugrenzen sind. Ihnen kommt daher im Zusammenhang mit den Straßenverkehrsvorschriften wesentliche Bedeutung für die Wertung zu, in welchem Umfang eine Kreuzungsanlage zum öffentlichen Verkehrsraum zählt, nachdem das Straßenrecht selbst keine Bauvorschriften kennt (Kodal, Straßenrecht, 3. Aufl 1978, § 316). Vor allem § 3 FStrKrV, wonach die in den §§ 1 und 2 nicht erfaßten Teile der Bundesfernstraße und der kreuzenden Straße zu der Straße gehören, der sie unmittelbar dienen, gibt hier brauchbare Hinweise (Kodal, aaO, Anhang A S. 1122). Was unter Eckausrundung zu verstehen ist, sagt § 1 Abs 2: eine Eckausrundung beginnt an der Stelle, an der der erste Radius die Ecken der Straßenränder von der Bundesfernstraße und der kreuzenden Straße abzurunden beginnt. Somit bieten die aufgeführten Vorschriften hinreichenden Anhalt dafür, daß auch Abbiegespuren zur Kreuzungsanlage gehören. Die Länder haben im Rahmen ihrer Zuständigkeit gleiche oder ähnliche Regelungen getroffen (für Hessen: Hess. Straßengesetz vom 9. Oktober 1962 idF vom 5. Oktober 1970 - GVBl S. 437 und S.598 bei Kodal aaO, S. 1246 ff).

All dies trifft für die Örtlichkeit zu, an der E. tödlich verunglückt ist. Allein der Umstand, daß die Rechtsabbiegerspur vom K Ring zur E Straße von der zur S-straße führenden Fahrbahn durch eine mit Vorfahrtsschild versehene kleine Verkehrsinsel getrennt ist, rechtfertigt es nicht, sie als außerhalb der Kreuzungsanlage liegende, selbständige Straßeneinmündung in die E Straße anzusehen, wie dies umgekehrt auch bei der Einführung der E Straße in die S-straße nicht zu vertreten wäre. Ob E. den Unfall an einer Stelle erlitten hat, die er auch auf dem üblichen Heimweg hätte befahren müssen, oder ob er 10 bis 12 m davon entfernt war, ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend. Maßgeblich ist vielmehr allein, daß der Unfall in einer Kreuzungsanlage des öffentlichen Verkehrsraumes geschehen ist, wo E. wieder Versicherungsschutz hatte.

Gegen den vom LSG berichtigten Urteilstenor des SG (§ 138 SGG) bestehen keine Bedenken (BSG Urteil vom 14. Februar 1978 - 7/12 RAr 73/76 - mwN).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Breith. 1980, 104

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