Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 21.06.1991; Aktenzeichen L 6 U 62/90)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 21. Juni 1991 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Entschädigung eines Unfalls als Arbeitsunfall.

Der Kläger ist bei einer Verlagsgesellschaft in H. … als Packer beschäftigt. Am 29. Dezember 1987 begab er sich nach Beendigung der Nachtschicht um 6.00 Uhr als Mitfahrer im Pkw seines Arbeitskollegen F. … (F) auf den Heimweg. Auf der üblichen Fahrroute durchfuhren sie die B. … Straße, die in die B. … mündet. Im Einmündungsbereich befindet sich – aus der Fahrtrichtung des Klägers gesehen rechts – eine Gaststätte und gegenüber ebenfalls im Einmündungsbereich eine Bäckerei. F hielt vor der Gaststätte – also noch im Einmündungsbereich der Kreuzung – seinen Pkw an, weil der Kläger in der Bäckerei Brötchen für sein Frühstück kaufen wollte. Der Kläger verließ das Fahrzeug, überquerte diagonal den Einmündungsbereich der Kreuzung, wurde auf der anderen Fahrbahn vor der Bäckerei von einem Pkw erfaßt und schwer verletzt. Ein Blutalkoholgutachten ergab für die Entnahmezeit (knapp 2 Stunden nach dem Unfall) eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,72 o/oo.

Mit Bescheid vom 22. Juli 1988 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25. November 1988 lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen ab.

Das Sozialgericht hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die bei dem Unfall am 29. Dezember 1987 erlittenen Gesundheitsstörungen als Folgen eines Arbeitsunfalls festzustellen (Urteil vom 16. Januar 1990). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 21. Juni 1991). Es hat ausgeführt, der Kläger habe unter Versicherungsschutz gestanden, als er die Straße im Einmündungsbereich B. … Straße/B. … überquert habe. Sowohl der Ausgangspunkt (Halten des Pkw des F) wie der Zielort (Bäckerei) hätten im Bereich dieser Einmündung gelegen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) würden Kreuzung oder Einmündung als Bestandteil des versicherten Weges gelten; daher könne es unfallversicherungsrechtlich keinen Unterschied machen, ob der Versicherte beim Verlassen der Kreuzung/Einmündung zu einem privaten Zweck oder – wie in den vom BSG entschiedenen Fällen – bei der Rückkehr von einer privaten Verrichtung in der Kreuzung/Einmündung verunglücke. Die dem Betreten oder Befahren des Unfallortes zugrundeliegenden Motive seien bei der Beurteilung von Unfällen im Kreuzungs- oder Einmündungsbereich außer Betracht zu lassen. Da der Kläger noch im Einmündungsbereich verunglückt sei, habe er unter Versicherungsschutz gestanden; unerheblich sei, daß er die Einmündung schräg überquert und sich dabei rein räumlich von seinem Zielort – Wohnung- entfernt habe. Dem Versicherungsschutz stehe auch nicht entgegen, daß der Kläger zum Unfallzeitpunkt unter Alkoholeinfluß gestanden habe. Eine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit lasse sich nicht feststellen. Bei Fußgängern sei eine absolute alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit nicht anerkannt. Es seien auch keine typischen Beweisanzeichen vorhanden, die den Rückschluß auf ein alkoholbedingtes Fehlverhalten zuließen.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Der Kläger habe den Heimweg von der Arbeit unterbrochen, da er bei einer Bäckerei Brötchen habe kaufen wollen. Damit habe er eine deutliche Zäsur innerhalb seines Weges von seinem Beschäftigungsort nach Hause gesetzt. Das Aufsuchen der Bäckerei stehe in keinem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der Zurücklegung des nach § 550 Abs 1 RVO versicherten Heimweges. Es handele sich hierbei um eine nicht nur geringfügige Unterbrechung. Auch der Hinweis auf den „öffentlichen Verkehrsraum” könne den Versicherungsschutz des Klägers nicht begründen: Im Unfallzeitpunkt habe sich der Kläger nicht in Richtung auf seine Wohnung bewegt, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Der Kläger habe im Unfallzeitpunkt auch nicht das Fortbewegungsmittel benutzt, mit dem er an sich die Wohnung habe erreichen wollen (nämlich den Pkw), sondern er sei zu Fuß unterwegs gewesen.

Die Beklagte beantragt,

die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nicht begründet. Dem Kläger stehen Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu, weil sein Unfall am 29. Dezember 1987 ein Arbeitsunfall iS des § 550 Abs 1 RVO ist. Nach dieser Vorschrift gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Voraussetzung ist, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet, im inneren (sachlichen) Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit steht, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Der vom Versicherten zurückgelegte Weg muß als Heimweg iS des § 550 Abs 1 RVO wesentlich dazu dienen, nach Beendigung der Betriebstätigkeit die Wohnung zu erreichen (BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 4 mwN). Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, befand sich der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls noch auf dem – versicherten – Heimweg. Das Überqueren der B. … im Einmündungsbereich führte nicht zu einer den Versicherungsschutz ausschließenden Unterbrechung des Heimweges.

Auch bei Mitgliedern einer Fahrgemeinschaft müssen die in § 550 Abs 1 RVO festgelegten Voraussetzungen für den Versicherungsschutz gegeben sein (BSGE 63, 26, 27 mwN). Danach besteht, worauf auch die Revision zutreffend hinweist, während einer privaten Verrichtungen dienenden Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit nur dann Versicherungsschutz, wenn die Unterbrechung lediglich als geringfügig anzusehen ist (s ua BSGE 20, 219, 221; BSG SozR 2200 § 550 Nr 44; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11 Aufl, S 487e mit zahlreichen Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum). Richtig ist auch der Hinweis der Beklagten, daß der Kauf von Brötchen mit dem Aufsuchen der Bäckerei grundsätzlich keine nur geringfügige eigenwirtschaftliche Tätigkeit darstellt (s die von der Beklagten angeführte Entscheidung des Senats vom 29. April 1980 = BSG SozR 2200 § 550 Nr 44). In dieser Entscheidung hat der Senat allerdings ferner dargelegt, daß die Unterbrechung des versicherungsrechtlich geschützten Weges erst dann beginnt, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum verlassen hat, und endet, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum wieder erreicht hat (s ua auch BSGE 20, 219, 221/222; BSGE 49, 16, 18; BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 4).

Hat demnach der Versicherte den seinem Heimweg zuzurechnenden öffentlichen Verkehrsraum noch nicht verlassen (oder wieder erreicht), so besteht noch (oder bereits wieder) Versicherungsschutz, selbst wenn die beabsichtigte Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit nicht geringfügig sein sollte (Brackmann aaO S 487d).

Die Grenzlinie ist die des öffentlichen Verkehrsraumes, eines Weges, auf dem der Versicherte nach § 550 Abs 1 RVO geschützt ist. Das Verlassen dieses Verkehrsraumes aus eigenwirtschaftlichen Gründen markiert eine allgemein feststellbare Zäsur, die es rechtfertigt, den Unfallversicherungsschutz als unterbrochen anzusehen, und das Ende der Unterbrechung erst dann wieder anzunehmen, wenn der Weg mit der Handlungstendenz, nach Hause zu gelangen, in diesem Verkehrsraum wieder fortgesetzt wird (BSG SozR aaO; siehe auch BSG SozR 2200 § 550 Nr 69).

Demzufolge hängt der Versicherungsschutz im vorliegenden Fall nicht davon ab, daß sich der Unfall des Klägers nicht im Bereich der Abbiegespur B. … Straße bzw der Einmündung dieser Spur in die B. … ereignete. Rechtserheblich ist vielmehr insoweit, ob der Unfall des Klägers sich in dem seinem Heimweg zuzurechnenden öffentlichen Verkehrsraum ereignet hat (BSG SozR 2200 § 550 Nr 69).

Bei einer Kreuzungsanlage umfaßt ihr Gesamtbereich mit der Einmündung und der Gabelung, durch die der versicherte Weg führt, den versicherungsrechtlich geschützten öffentlichen Verkehrsraum (BSGE 49, 16, 18). Diese Abgrenzung ist sachgerecht; sie vermeidet infolge der einfachen Feststellbarkeit der objektiven Voraussetzungen für den Versicherungsschutz ungerechtfertigte Härten und stellt insbesondere Fußgänger und andere Verkehrsteilnehmer gleich (BSG SozR aaO).

Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) überquerte der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls die Straße im Einmündungsbereich B. … Straße/B. …; sowohl der Ausgangspunkt (Halten des Pkw des F) wie der Zielort (Bäckerei) lagen im Bereich dieser Einmündung. Damit ist der Kläger im geschützten öffentlichen Verkehrsraum der Kreuzungsanlage verunglückt. Unerheblich ist dabei entgegen der Auffassung der Revision, daß der Kläger im Unfallzeitpunkt nicht das Fortbewegungsmittel, mit dem er an sich die Wohnung erreichen wollte, benutzte, sondern zu Fuß unterwegs war. Es wäre schwer einzusehen, warum dem Versicherten, der sich entschlossen hat, den ganzen Heimweg zu Fuß zurückzulegen, der so abgegrenzte Kreuzungsbereich ohne Verlust des Versicherungsschutzes zur Verfügung steht, anderen versicherten Verkehrsteilnehmern dagegen nicht. Vielmehr ist nach Auffassung des Senats für die rechtliche Wertung des hier zu beurteilenden Sachverhalts neben dem Umstand, daß der Kläger die Heimfahrt schon nach kurzer Zeit wieder fortgesetzt haben würde, bedeutsam, daß der gesamte Vorgang – von dem kurzen Aufenthalt in der Bäckerei abgesehen – sich örtlich im Bereich der Kreuzung abgespielt hat, auf der sich der Kläger fortbewegen mußte, um seine Wohnung erreichen zu können (BSGE 20, 219, 222; BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 4).

Dieses Ergebnis steht auch nicht im Widerspruch mit der Entscheidung des Senats vom 19. März 1991 – 2 RU 45/90 – (BSG SozR 3-2200 § 548 Nr 8). Nach dieser Entscheidung bewirkt – wie die Revision zutreffend darauf hinweist – der auf privaten Gründen beruhende Richtungswechsel innerhalb eines grundsätzlich versicherten Heimweges eine deutliche Zäsur, wenn ein solcher Richtungswechsel sich damit, anders als etwa der Umweg, sowohl nach seiner Zielrichtung als auch nach seiner Zweckbestimmung von dem zunächst eingeschlagenen Heimweg unterscheidet; dies allein reicht für die Unterbrechung des Versicherungsschutzes aus, auch wenn der Versicherte sich im Bereich des öffentlichen Verkehrsraumes bewegt. Der Weg, den der Versicherte zurücklegt, muß, wenn es ein Heimweg im Sinne des § 550 Abs 1 RVO ist, wesentlich dazu dienen, nach Beendigung der Betriebstätigkeit die Wohnung zu erreichen. Maßgeblich ist also die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätig wird (vgl BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 4 mwN). Den der Entscheidung des Senats vom 19. März 1991 (aaO) zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ist zu entnehmen, daß die Willensrichtung des später Verunglückten im Unfallzeitpunkt nicht mehr auf die unmittelbare Fortsetzung des eingeschlagenen Heimweges nach der Unterbrechung dieses Weges gerichtet war, als er die Straße in entgegengesetzter Richtung zu seiner Wohnung überquerte. Nicht nur mit diesem Richtungswechsel und dem Überschreiten der Fahrbahn in entgegengesetzter Richtung, sondern auch durch die sie tragende Handlungstendenz hatte der Versicherte eine deutliche Zäsur gesetzt. Im Gegensatz zum vorliegenden Fall war die Absicht, von der Arbeitsstätte nach Hause zu gelangen, zurückgestellt, unterbrochen worden, und der weitere Weg in die Richtung der gegenüberliegenden Straßenseite war wesentlich allein von eigenwirtschaftlicher Handlungstendenz getragen, die von der Fortsetzung des weiteren Weges losgelöst war (s BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 4). Im vorliegenden Fall war dagegen die Richtung der Straßenüberquerung durch das Zurücklegen des Heimweges mit einem Pkw bedingt und mit der Absicht verbunden, den Heimweg sogleich fortzusetzen.

Anders verhält es sich dagegen mit der von der Revision angeführten Entscheidung des Senats vom 25. Januar 1977 – 2 RU 57/75 – (SozR 2200 § 55O Nr 24) zum Versicherungsschutz bei einer Umkehr vom Weg zum Ort der Tätigkeit, um aus der etwa 280 m entfernt liegenden Wohnung vergessenes Geld zu holen. Nach den dieser Entscheidung zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts war die Absicht des Versicherten, von zu Hause zur Arbeitsstätte zu fahren, für die Wegstrecke, auf der sich der Unfall ereignete, beendet gewesen. Für den eingeschobenen Weg zurück nach Hause war allein die eigenwirtschaftliche Handlungstendenz ausschlaggebend, das vergessene Geld zu holen.

Dem Versicherungsschutz des Klägers steht auch nicht entgegen, daß er zum Unfallzeitpunkt unter Alkoholeinfluß stand (festgestellte BAK von 1,72 o/oo knapp 2 Stunden nach dem Unfall). Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, spricht die BAK allein noch nicht dafür, daß sie als rechtlich allein wesentliche Ursache für den Unfall anzusehen ist. Anders als bei Kraftfahrern liegen für Fußgänger keine gesicherten Erkenntnisse vor, die bei einer bestimmten BAK allgemein die Annahme von (absoluter) Verkehrsuntüchtigkeit rechtfertigen (BSGE 43, 293, 295; Brackmann aaO S 487w und 488 b mwN). Bei Fußgängern kommen nur solche Verhaltensweisen als Beweisanzeichen für eine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit in Betracht, die typisch für einen unter Alkoholeinfluß stehenden Fußgänger sind und nicht ebensogut andere Ursachen haben können wie Unaufmerksamkeit, Leichtsinn, Übermüdung, körperliche Verfassung und ähnliches (BSG Urteil vom 8. September 1977 – 2 RU 79/76 – USK 77196; BSG Urteil vom 30. Oktober 1979 – 2 RU 73/79 – USK 79201; Lauterbach/ Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 77 S 244). Solche Beweisanzeichen liegen nach den Feststellungen des LSG nicht vor. Hiergegen erhebt die Beklagte auch keine Rügen.

Da hiernach der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls unter Versicherungsschutz stand, es sich somit um einen Arbeitsunfall gehandelt hat, stehen ihm gegen die Beklagte Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu.

Die Revision der Beklagten ist deshalb unbegründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1993, 87

JuS 1993, 348

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