Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz auf Wegen zu oder von der Arbeitsstätte (Unterbrechung wegen einer privaten Besorgung). alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit bei Fußgängern

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine für den Unfallversicherungsschutz bedeutsame Unterbrechung des Arbeitsweges zu oder von der Arbeitsstätte tritt während einer im Verhältnis zum Gesamtweg zeitlich und räumlich geringfügigen privaten Verrichtung nicht ein, wenn der räumliche Straßenbereich des Weges nicht verlassen wird; unerheblich bleibt, ob die Straßenseite gewechselt und die Fahrbahn überquert wird.

2. Für Fußgänger ist ein Grenzwert für die absolute alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit nicht festgesetzt; die demzufolge erhebliche Frage der alkoholbedingten relativen Verkehrsuntüchtigkeit und ihrer Kausalität für den Unfall ist nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen.

3. Nur solche Verhaltensweisen eines Fußgängers kommen als Beweisanzeichen für eine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit in Betracht, die typisch für einen unter Alkoholeinfluß stehenden Fußgänger sind und nicht ebensogut andere Ursachen haben können, wie Unaufmerksamkeit, Leichtsinn, Übermüdung, körperliche Verfassung und ähnliches.

 

Orientierungssatz

1. Aus der Wahl des Verkehrsmittels lassen sich keine einschränkende Folgerungen hinsichtlich des Umfanges des Versicherungsschutzes herleiten. Weder ist bei einem Kraftfahrer der Versicherungsschutz auf die Fahrstraße, noch bei einem Fußgänger auf den Gehweg beschränkt (vgl BSG 1964-02-28 2 RU 185/61 = BSGE 20, 219).

2. Es reicht für die Annahme von alkoholbedingter Verkehrsuntüchtigkeit nicht aus, daß ein Fußgänger die Entfernung und die Geschwindigkeit eines herannahenden Kraftwagens nicht richtig einschätzt und deshalb die Straße vor ihm zu überqueren trachtet.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 07.09.1976; Aktenzeichen L 3 U 105/75)

SG Oldenburg (Entscheidung vom 19.08.1975; Aktenzeichen S 7a U 109/74)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 7. September 1976 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger war als Arbeiter auf dem Flugplatz A beschäftigt. Am 13. Dezember 1973 verließ er den Flugplatz nach einer betrieblichen Weihnachtsfeier, bei der auch Alkohol getrunken worden war, gegen 17.15 Uhr durch die Hauptwache. Es war dunkel und naß; abwechselnd fielen Regen- und Schneeschauer. Der Kläger ging zunächst auf dem neben der an der Hauptwache vorbeiführenden Bundesstraße 69 befindlichen Rad- und Gehweg nach links; das mitgeführte Fahrrad schob er. Nachdem er sich 64 m von der Hauptwache entfernt hatte, überquerte er den zwischen Radweg und Bundesstraße verlaufenden Graben auf einem dort vorhandenen Überweg. Er hatte die Absicht, seinen Neffen aufzusuchen, der an einem jenseits des Überweges einmündenden Gemeindeweg wohnte, und sich bei dem Neffen nach dem Gesundheitszustand seiner Schwester zu erkundigen. Um zu seiner Wohnung zu gelangen, hätte der Kläger sich weiter auf dem Rad- und Gehweg fortbewegen müssen. Beim Überschreiten der Bundesstraße wurde der Kläger von einem aus nördlicher Richtung herankommenden Kraftwagen erfaßt und schwer verletzt. Eine vom Kläger am Unfalltag gegen 20.40 Uhr entnommene Blutprobe ergab nach dem Gutachten des Dr. G vom Landeshygieneinstitut O vom 15. Dezember 1973 eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,78 0 / 00 nach Widmark und 1,83 0 / 00 nach der ADH-Methode. Daraus errechnete Dr. G für den Unfallzeitpunkt eine BAK von 2,1 bis 2,2 0 / 00 . Der am Unfall beteiligte Kraftfahrer A (A.) wurde durch rechtskräftiges Urteil der II. Kleinen Strafkammer des Landgerichts in Oldenburg (Oldb.) vom 2. Mai 1975 (16 Ns 2/75) wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 5 Tagessätzen zu 25,- DM verurteilt. Die Strafkammer hat festgestellt, daß A. den Kläger bereits gesehen habe, als er noch 70 m von der späteren Unfallstelle entfernt gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt habe der Kläger sein Fahrrad geschoben und Anstalten gemacht, aufzusteigen. Er sei bereits auf der Mitte der Süd-Nord-Spur gewesen. Obwohl A. sich hätte sagen müssen, daß es zu einem Unfall kommen könnte, wenn er die Geschwindigkeit seines Fahrzeuges nicht herabsetze, habe er zunächst nicht gebremst. Dies habe er erst getan, als der Kläger sich auf die Nord-Süd-Spur zu bewegte. Diese Fehleinschätzung des A. sei für den Unfall und seine späteren Folgen ursächlich gewesen. Bei der Strafzumessung hat die Strafkammer das hohe Maß des Mitverschuldens des Klägers an dem Unfall mitberücksichtigt. Durch Bescheid vom 30. Januar 1974 lehnte der Beklagte die Gewährung einer Entschädigung aus Anlaß des Unfalls vom 13. Dezember 1973 ab, weil sich der Kläger nicht auf einem nach § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geschützten Weg befunden habe. Der Weg, auf dem es zum Unfall gekommen sei, habe eigenwirtschaftlichen Interessen gedient, denn Ziel des Weges sei nicht die eigene Wohnung, sondern die Wohnung des Neffen gewesen. Der direkte Heimweg habe ein Überqueren der Bundesstraße 69 nicht notwendig gemacht.

Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat nach Beiladung der Allgemeinen Ortskrankenkasse O (Oldb.) den Beklagten verurteilt, dem Kläger die gesetzlich vorgesehenen Entschädigungen anläßlich seines Unfalls vom 13. Dezember 1973 zu gewähren (Urteil vom 19. August 1975). Die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen zurückgewiesen (Urteil vom 7. September 1976). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe auf dem Heimweg von der versicherungsrechtlich geschützten Weihnachtsfeier im Zeitpunkt des Unfalls unter Versicherungsschutz gestanden, weil er den Heimweg noch nicht unterbrochen gehabt habe; er habe sich noch innerhalb des öffentlichen Verkehrsraumes des nach § 550 RVO geschützten Weges befunden. Dieser Verkehrsraum umfasse die gesamte Breite der Bundesstraße 69 einschließlich des Rad- und Gehweges. Allein die Absicht des Klägers, eine private Besorgung außerhalb des öffentlichen Verkehrsraumes zu erledigen, habe nicht zur Unterbrechung des Versicherungsschutzes geführt. Er sei auch nicht dadurch beeinträchtigt worden, daß der Kläger infolge nicht betriebsbedingten Alkoholgenusses verkehrsuntüchtig gewesen sei, denn die Verkehrsuntüchtigkeit sei nicht die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen. Wesentliche Mitursache sei nach den Feststellungen der II. Kleinen Strafkammer dem verkehrswidrigen Verhalten des Kraftfahrers A. beizumessen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Der Kläger habe sich zur Zeit des Unfalls nicht mehr auf dem versicherungsrechtlich geschützten Weg nach Hause befunden. Der für den Heimweg des Klägers in Betracht kommende Verkehrsraum sei der Rad- und Gehweg gewesen. Diesen habe der Kläger verlassen gehabt. Die von dem Rad- und Gehweg durch einen Graben getrennte Bundesstraße 69 habe nicht mehr dazu gehört. Zudem habe der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls nicht die Absicht gehabt, den Heimweg fortzusetzen. Vielmehr habe er seine Schwester besuchen wollen. Abgesehen davon sei die alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit des Klägers auch die allein wesentliche Unfallursache gewesen. Offensichtlich enthemmt und gegenüber den normalen Verkehrsgefahren auf einer vielbefahrenen Bundesstraße sorglos habe er mitsamt seinem Fahrrad den zwischen dem Fahrradweg und der Bundesstraße verlaufenden Graben überwunden und die Bundesstraße überquert. Wäre der Kläger nicht alkoholisiert gewesen, hätte er das herannahende Kraftfahrzeug des A. rechtzeitig sehen müssen. Der Kläger dürfte geradezu einer selbstgeschaffenen Gefahr erlegen sein. Die Fahrweise des A. falle jedenfalls für das Zustandekommen des Unfalls nicht ins Gewicht. Das LSG hätte sich hinsichtlich des Unfallablaufs nicht mit der Bezugnahme auf die Strafakten begnügen dürfen, sondern A. und die einzige Augenzeugin des Unfalls selbst hören müssen. Dabei hätte sich ergeben, daß A. überhaupt kein Verschulden an dem Unfall treffe.

Der Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG Niedersachsen vom 7. September 1976 und des SG Oldenburg vom 19. August 1975 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise

die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kläger und die Beigeladene beantragen,

die Revision zurückzuverweisen.

Der Kläger trägt ua vor, er habe sich zur Zeit des Unfalls auf dem nach § 550 RVO geschützten Heimweg befunden. Selbst wenn davon auszugehen wäre, daß er den öffentlichen Verkehrsraum schon verlassen gehabt habe, sei der Versicherungsschutz nicht unterbrochen gewesen. Er habe nämlich, was das LSG dahingestellt gelassen habe, wegen des schlechten Wetters zum Hause seines Neffen gelangen und dabei sich auch nach dem Gesundheitszustand seiner Schwester erkundigen wollen. Ein Besuch seiner Schwester sei nicht möglich gewesen, da diese sich im Krankenhaus befunden habe. Abgesehen davon, daß der Alkoholgenuß während der Weihnachtsfeier der betrieblichen Tätigkeit zuzurechnen sei, könne bei der festgestellten BAK nicht von Verkehrsuntüchtigkeit gesprochen werden. Das LSG habe übersehen, daß die Rückrechnung auf den Unfallzeitpunkt nicht eher als zwei Stunden nach Trinkende erfolgen dürfe. Es sei somit von einer BAK von ungefähr 1,9 0 / 00 zur Unfallzeit auszugehen. Hinreichende tatsächliche Feststellungen, daß sich der Alkoholgenuß auf seine Verkehrstüchtigkeit ausgewirkt habe, seien vom LSG nicht getroffen worden. Ein etwaiges Fehlverhalten seinerseits sei nicht durch den Alkohol, sondern durch das schlechte Wetter bedingt gewesen.

Die Beigeladene trägt ergänzend vor, die Ausführungen der Revision seien schon im Ansatz verfehlt. Der Kläger habe keineswegs den Graben zwischen Fahrradweg und Bundesstraße durchquert, sondern habe einen dort vorhandenen Überweg benutzt. Damit entfalle das Argument des Beklagten, der Kläger habe sich gravierend leichtfertig und unvernünftig verhalten. Ein etwa verbotswidriges Verhalten würde aber den Versicherungsschutz auch nicht beeinträchtigen können. Es sei nicht Aufgabe der Sozialversicherung, nachgehende Strafjustiz zu üben. Für die Frage, ob den Kraftfahrer A. an dem Unfall ein Mitverschulden treffe, habe das LSG sich ohne Rechtsirrtum auf die entsprechenden Feststellungen des Landgerichts Oldenburg stützen dürfen. Das LSG sei nicht verpflichtet gewesen, eigene Ermittlungen anzustellen.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Der Unfall des Klägers am 13. Dezember 1973 war ein Arbeitsunfall.

Nach § 550 Abs 1 RVO, der mit dem bis zum 31. Dezember 1973 geltenden § 550 Satz 1 RVO identisch ist (vgl § 15 Nr 1 des Siebzehnten Rentenanpassungsgesetzes vom 1. April 1974 - BGBl I 821), gilt als Arbeitsunfall ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Der Begriff des Weges umfaßt das Sichfortbewegen auf einer Strecke, die durch einen Ausgangs- und einen Zielpunkt begrenzt ist (BSGE 11, 156, 157). Gesetzliches Erfordernis ist dabei nur, daß der Weg entweder zum Ort der Tätigkeit hin- oder von ihm wegführt. Der andere Grenzpunkt des Weges ist gesetzlich nicht festgelegt. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG bewegte sich der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls von dem Ort seiner versicherten Tätigkeit im Fliegerhorst Ahlhorn fort. Der Weg stand auch im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit. Denn im Fliegerhorst hatte eine Weihnachtsfeier stattgefunden, die als betriebliche Gemeinschaftsveranstaltung der versicherten Tätigkeit (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) zuzurechnen ist (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl. S 482 o I ff und die dort zitierte Rechtsprechung). Auf die rechtliche Wertung der weiteren tatsächlichen Feststellung des LSG, nach denen der Kläger die Absicht hatte, seinen Neffen aufzusuchen, der an dem Gemeindeweg wohnte, auf den sich der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls zubewegte, brauchte der Senat nicht einzugehen. Denn der Unfall hat sich im Bereich des öffentlichen Verkehrsraumes ereignet.

Dem LSG ist darin zuzustimmen, daß eine zum Wegfall des Versicherungsschutzes führende Unterbrechung des Weges von dem Ort der Tätigkeit im Zeitpunkt des Unfalls nicht vorgelegen hat. Denn eine infolge einer privaten Besorgung notwendige - räumliche - Unterbrechung des Weges von dem Ort der Tätigkeit beginnt grundsätzlich erst, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum verlassen hat (BSGE 20, 219, 221; 22, 7, 9; SozR Nr 28 zu § 543 RVO aF; Breith. 1969, 478, 479; BSG Urteil vom 31. Oktober 1972 - 2 RU 99/71 - unveröffentlicht; Brackmann aaO S 486 t mit weiteren Nachweisen). Das LSG hat im einzelnen die Gründe dargelegt, die für die angeführte Rechtsprechung maßgebend gewesen waren; ihnen ist nichts hinzuzufügen. Zum öffentlichen Verkehrsraum gehörten im vorliegenden Fall nicht nur die Bundesstraße 69, sondern auch der mit ihr parallel verlaufende, durch einen Graben getrennte Rad- und Gehweg. Nach der Auffassung des erkennenden Senats lassen sich aus der Wahl des Verkehrsmittels keine einschränkende Folgerungen hinsichtlich des Umfanges des Versicherungsschutzes herleiten. Weder ist bei einem Kraftfahrer der Versicherungsschutz auf die Fahrstraße, noch bei einem Fußgänger auf den Gehweg beschränkt (BSGE 20, 219, 221; SozR Nr 28 zu § 543 RVO aF). Der Versicherungsschutz des Klägers konnte daher auch nicht durch die Benutzung der Bundesstraße 69 beeinträchtigt werden, die, wie aus den tatsächlichen Feststellungen des LSG hervorgeht, von dem Rad- und Gehweg zwar durch einen Graben getrennt ist, jedoch in der Gegend des Gemeindeweges, auf den der Kläger zustrebte, auf einem dafür vorgesehenen Überweg erreicht werden konnte; der Kläger hat diesen Überweg auch benutzt. Da sich der Kläger auch auf der Bundesstraße 69 noch auf einer in Richtung zu seiner Wohnung führenden Wegstrecke bewegte, konnten dem Vorhaben, dorthin zu gelangen, etwa entgegenstehende Beweggründe keine rechtliche Bedeutung mit der Folge gewinnen, daß die Zurücklegung des Weges mit seiner versicherten Tätigkeit nicht mehr in innerem Zusammenhang steht.

Der Kläger hat den auf dem zurückgelegten Weg bestehenden Versicherungsschutz nicht deshalb verloren, weil er unter Alkoholeinwirkung stand.

Wie beim Kraftfahrer schließt auch beim Fußgänger die auf unternehmensfremdem Alkoholgenuß beruhende Verkehrsuntüchtigkeit den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung aus, wenn sie die unternehmensbedingten Umstände derart in den Hintergrund drängt, daß sie als allein rechtlich wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen ist (BSGE 12, 242, 245; 13, 9, 11; BSG Urteile vom 26. April 1977 - 8 RU 92/76 - und - 8 RU 6/77 -). Dem LSG ist darin zuzustimmen, daß anders als beim Kraftfahrer für Fußgänger keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen, die von einer bestimmten BAK an allgemein die Annahme einer absoluten Verkehrsuntüchtigkeit rechtfertigen (BSGE 10, 46, 48; 27, 40, 41; Gutachten des Bundesgesundheitsamts zur Frage "Alkohol bei Verkehrsstraftaten", bearbeitet von Lundt und Jahn, 2. Aufl, Kirschbaum Verlag, S 46, 47, 52, 53; BSG Urteile vom 26. April 1977 aaO). Seine Auffassung, daß der Kläger aufgrund einer BAK von 2,1 bis 2,2 0 / 00 und sonstiger Beweisanzeichen relativ verkehrsuntüchtig gewesen sei, wird vom erkennenden Senat nicht geteilt. Die relative Verkehrsuntüchtigkeit hat das LSG aus Erfahrungssätzen über Leistungsminderungen und Persönlichkeitsveränderungen infolge Alkoholgenusses geschlossen; sie unterliegen als Rechtssätze der Nachprüfung auf ihre inhaltliche Richtigkeit durch das Revisionsgericht (vgl BSGE 10, 46, 49; 12, 242, 243). Das LSG hat dem Gutachten des Bundesgesundheitsamtes zur Frage "Alkohol bei Verkehrsstraftaten" (aaO) entnommen, daß jeder Mensch bei einer BAK von 1,0 bis 1,1 0 / 00 alkoholbedingte Leistungsminderungen und Persönlichkeitsveränderungen aufweise, die einer Teilnahme am Straßenverkehr entgegenstehen. Offenbar hat das LSG in dem Verhalten des Klägers beim Überqueren der Bundesstraße 69, das es als sorglos und unbekümmert bezeichnet, alkoholbedingte Leistungsminderungen und Persönlichkeitsveränderungen gesehen, denn es hat aus diesem "Fehlverhalten" in Verbindung mit der BAK von 2,1 0 / 00 auf die Verkehrsuntüchtigkeit des Klägers geschlossen. Das Bundesgesundheitsamt hat zwar aufgrund statistischer Ergebnisse und der Resultate der experimentellen Alkoholforschung eine BAK zwischen 1,0 und 1,2 0 / 00 als denjenigen Grad der Alkoholisierung angesehen, bei dem jeder Mensch alkoholbedingte Leistungsminderungen und Persönlichkeitsveränderungen aufweist. Es hat jedoch in dem erwähnten Gutachten (aaO S 50) nicht zum Ausdruck gebracht, daß die alkoholbedingten Leistungsminderungen und Persönlichkeitsveränderungen einer Teilnahme am Straßenverkehr schlechthin entgegenstehen, sondern sie ausdrücklich nur als unvereinbar mit der Teilnahme am Straßenverkehr als Kraftfahrer bezeichnet. In dem Gutachten ist mehrfach auf das Fehlen von wissenschaftlichen und statistischen Erfahrungen hinsichtlich anderer Verkehrsteilnehmer als Kraftfahrer hingewiesen worden (aaO S 46, 47, 52, 53). Es begegnet zudem Bedenken, ohne Anhörung eines dafür qualifizierten Sachverständigen allein ein sorgloses und unbekümmertes Verhalten, das zudem nicht näher beschrieben ist, als alkoholbedingt zu bezeichnen. Mit dem 8. Senat (Urteile vom 26. April 1977 aaO) ist der erkennende Senat der Auffassung, daß nur solche Verhaltensweisen eines Fußgängers als Beweisanzeichen für eine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit in Betracht kommen, die typisch für einen unter Alkoholeinfluß stehenden Fußgänger sind und nicht ebensogut andere Ursachen haben können, wie Unaufmerksamkeit, Leichtsinn, Übermüdung, körperliche Verfassung und ähnliches. Daß ein Fußgänger die Entfernung und die Geschwindigkeit eines herannahenden Kraftwagens nicht richtig einschätzt und deshalb die Straße vor ihm zu überqueren trachtet, reicht für die Annahme von alkoholbedingter Verkehrsuntüchtigkeit nicht aus. Da vom LSG andere auf alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit hindeutende Anzeichen nicht festgestellt und aus den Akten auch nicht erkennbar sind (vgl dazu BSG Urteile vom 26. April 1977 aaO), kann beim Kläger von einer den Versicherungsschutz möglicherweise beeinträchtigenden alkoholbedingten Verkehrsuntüchtigkeit nicht ausgegangen werden. Es erübrigt sich unter diesen Umständen auch, auf die Mitverursachung des Unfalls durch den Kraftfahrer A. einzugehen. Soweit der Beklagte in diesem Zusammenhang Verfahrensrügen geltend macht, kann dahinstehen, ob sie zulässig und begründet sind. Denn auf die über die Mitverursachung des Unfalls durch A. getroffenen tatsächlichen Feststellungen kommt es für die Entscheidung im Revisionsverfahren nicht an.

Für den Versicherungsschutz ist auch ohne Belang, daß der Kläger dadurch, daß er für den Weg vom Ort der Tätigkeit nach Hause nicht gemäß §§ 2 Abs 4, 25 Abs 1, 41 Abs 2 Nr 5 Buchst a StVO den Rad- und Fußweg benutzte, möglicherweise einem Verbot zuwider gehandelt hat. Denn nach § 548 Abs 3 RVO schließt verbotswidriges Handeln die Annahme eines Arbeitsunfalls nicht aus.

Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Zurücklegung des Weges und der versicherten Tätigkeit ist auch nicht etwa dadurch ausgeschlossen, daß das zum Unfall führende Verhalten des Klägers in so hohem Maße vernunftwidrig war, daß er einer selbstgeschaffenen Gefahr erlegen ist. Der erkennende Senat hat den Begriff der selbstgeschaffenen Gefahr stets nur mit Zurückhaltung gehandhabt (vgl Brackmann aaO S 484 i und die dort zitierte Rechtsprechung). Der Kläger überwand nicht, wie die Revision meint, auf beschwerliche und sichtbehindernde Weise den Graben zwischen Radweg und Bundesstraße, sondern überquerte ihn nach den Feststellungen des LSG auf einem dafür vorgesehenen Überweg. Dem angefochtenen Urteil kann auch nicht entnommen werden, daß hier eine besonders schwere Vernunftswidrigkeit vorgelegen hat, wie der Beklagte behauptet. Nach Ansicht des LSG verhielt der Kläger sich beim Überqueren der Fahrbahn sorglos und unbekümmert. Das reicht jedoch bei weitem nicht aus, um eine den Versicherungsschutz ausschließende selbstgeschaffene Gefahr anzunehmen.

Da der Kläger als Folge des Unfalls vom 13. Dezember 1973 an einer Querschnittslähmung leidet, ist der Beklagte zu Recht dem Grunde nach verurteilt worden, dem Kläger Entschädigung zu gewähren. Die Revision des Beklagten mußte deshalb zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654372

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