Entscheidungsstichwort (Thema)

Revisionsnichtzulassungsbeschwerde. Grundsätzliche Bedeutung. Klärungsbedürftigkeit einer Frage nach altem Recht. Inhaltlicher Unterschied zu neuem Recht

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat. In der Beschwerdebegründung muss nach § 160a Abs. 2 S. 3 SGG diese grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aufgezeigt werden. Hierzu ist zunächst darzulegen, welcher konkreten abstrakten Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung beigemessen wird (BSG SozR 1500 § 160a Nr. 11). Insbesondere hat der Beschwerdeführer darzutun, dass die Rechtsfrage klärungsbedürftig, also zweifelhaft und klärungsfähig, mithin rechtserheblich ist, so dass hierzu eine Entscheidung des Revisionsgerichts zu erwarten ist (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr. 1; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr. 16).

2. Ist eine gesetzliche Bestimmung nicht durch eine inhaltsgleiche andere gesetzliche Bestimmung abgelöst worden, muss zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage dargestellt werden, dass noch über eine erhebliche Anzahl von Fällen nach altem Recht zu entscheiden oder die Frage für das neue Recht weiterhin von Bedeutung ist.

3. Die höchstrichterliche Auslegung alten Rechts kann jedenfalls nicht richtungsweisend sein, wenn die neue Vorschrift den Gegenstand des alten Rechts inhaltlich anders regelt und die aufgehobene Vorschrift auch nicht als Grundlage von auf ihr beruhenden Satzungen bedeutsam bleibt.

4. Die Unterschiede zwischen § 776 Abs. 1 Nr. 4 RVO und § 123 Abs. 1 Nr. 7 SGB VII sind nicht nur formaler und sprachlicher Art. Die Vorschriften unterscheiden sich vielmehr auch im Begrifflichen. Insbesondere fordert letztere Vorschrift im Gegensatz zur vorangegangenen die Unmittelbarkeit und das Überwiegen der Sicherung, Überwachung und Förderung der Landwirtschaft.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 S. 3; RVO § 776 Abs. 1 Nr. 4; SGB VII § 123 Abs. 1 Nr. 7

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 04.12.2001; Aktenzeichen L 18 U 142/01)

 

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 4. Dezember 2001 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat dem Beigeladenen zu 1) auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten; im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die gegen die Nichtzulassung der Revision im angefochtenen Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) gerichtete und auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gestützte Beschwerde der Beklagten ist unzulässig. Die dazu gegebene Begründung entspricht nicht der in § 160 Abs 2 und § 160a Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) festgelegten Form. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfordern diese Vorschriften, dass der Zulassungsgrund schlüssig dargetan wird (BSG SozR 1500 § 160a Nr 34, 47 und 58; vgl hierzu auch Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Aufl, 1997, IX, RdNr 177 und 179 mwN). Diesen Anforderungen an die Begründung hat die Beklagte nicht hinreichend Rechnung getragen.

Die Beklagte hält im Hinblick auf § 776 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Frage für grundsätzlich bedeutsam, „ob Teilnehmergemeinschaften, die nach dem Flurbereinigungsgesetz die Maßnahmen der Dorferneuerung betreiben, allein wegen des Flurbereinigungsverfahrens der landwirtschaftlichen Unfallversicherung zuzuordnen sind”.

Mit diesem Vorbringen hat die Beklagte den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nicht hinreichend dargelegt. Nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat. In der Beschwerdebegründung muss nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG diese grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aufgezeigt werden. Hierzu ist zunächst darzulegen, welcher konkreten abstrakten Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung beigemessen wird (BSG SozR 1500 § 160a Nr 11). Denn die Zulassung der Revision erfolgt zur Klärung grundsätzlicher Rechtsfragen und nicht zur weiteren Entscheidung des Rechtsstreits. Die abstrakte Rechtsfrage ist klar zu formulieren, um an ihr die weiteren Voraussetzungen für die begehrte Revisionszulassung nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG prüfen zu können (Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 181). Dazu ist erforderlich, dass ausgeführt wird, ob die Klärung dieser Rechtsfrage grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Insbesondere hat der Beschwerdeführer darzulegen, dass die Rechtsfrage klärungsbedürftig, also zweifelhaft und klärungsfähig, mithin rechtserheblich ist, so dass hierzu eine Entscheidung des Revisionsgerichts zu erwarten ist (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 16). Zur Klärungsfähigkeit gehört auch, dass die Rechtsfrage in einem nach erfolgter Zulassung durchgeführten Revisionsverfahren entscheidungserheblich ist (BSG Beschluss vom 11. September 1998 – B 2 U 188/98 B –). Die Klärungsbedürftigkeit ist zu verneinen, wenn die Rechtsfrage bereits höchstrichterlich beantwortet ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 51; BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 und 65) oder wenn die Antwort unmittelbar aus dem Gesetz zu ersehen ist (BSG SozR 1300 § 13 Nr 1), wenn sie so gut wie unbestritten ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17), wenn sie praktisch außer Zweifel steht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 4) oder wenn sich für die Antwort in anderen Entscheidungen bereits ausreichende Anhaltspunkte ergeben (Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 117; Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 65). Die Klärungsbedürftigkeit ist schließlich nicht gegeben, wenn die Rechtsfrage nicht mehr geltendes Recht betrifft und nicht erkennbar wird, dass noch eine erhebliche – genau zu bezeichnende – Anzahl von Fällen nach diesen Vorschriften zu entscheiden sind (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 19; Beschlüsse des Senats vom 15. September 1986 – 2 BU 104/86 –, vom 23. August 1996 – 2 BU 149/96 –, vom 26. Oktober 1998 – B 2 U 252/98 B – nachfolgend Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 2000 – 1 BvR 2198/98 –, vom 29. April 1999 – B 2 U 178/98 B – HVBG-Info 1999, 2943 sowie vom 24. April 2001 – B 2 U 89/01 B –; Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 187) oder dass die Rechtsfrage für das neue Recht weiterhin von Bedeutung ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 58; Beschlüsse des BSG vom 26. November 1996 – 3 BK 4/96 –, 31. März 1999 – B 7 AL 170/98 B – und 6. Mai 1999 – B 11 AL 209/98 B –).

Diesen besonderen Anforderungen an die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit entspricht die Beschwerdebegründung der Beklagten nicht. Denn sie hat nicht hinreichend berücksichtigt, dass die von ihr aufgeworfene Rechtsfrage ausgelaufenes Recht betrifft. Nach dem vom LSG angewandten, bis zum 31. Dezember 1996 geltenden § 776 Abs 1 Nr 4 RVO umfasste die landwirtschaftliche Unfallversicherung Unternehmen zum Schutz und zur Förderung der Landwirtschaft einschließlich der landwirtschaftlichen Selbstverwaltung und ihrer Verbände (§ 539 Abs 1 Nr 5 RVO). Diese Regelung ist – wie auch die übrigen Vorschriften des Dritten Buches der RVO – mit Wirkung vom 1. Januar 1997 durch Art 35 Nr 1 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes (UVEG) vom 7. August 1996 (BGBl I 1254) aufgehoben und durch § 123 Abs 1 Nr 6 und 7 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) ersetzt worden (Art 36 UVEG). Nach näherer Maßgabe des § 123 Abs 1 SGB VII sind die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften für die Landwirtschaftskammern und die Berufsverbände der Landwirtschaft (Nr 6) sowie für Unternehmen zuständig, die unmittelbar der Sicherung, Überwachung oder Förderung der Landwirtschaft überwiegend dienen (Nr 7). Die Unterschiede zwischen § 776 Abs 1 Nr 4 RVO und dem hier allein in Betracht kommenden § 123 Abs 1 Nr 7 SGB VII sind nicht nur formaler und sprachlicher Art. Die Vorschriften unterscheiden sich vielmehr auch im Begrifflichen. Insbesondere fordert letztere Vorschrift im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin die Unmittelbarkeit und das Überwiegen der Sicherung, Überwachung und Förderung der Landwirtschaft. Dass die voneinander abweichenden Formulierungen der alten und der neuen Vorschrift rechtserhebliche Unterscheidungskriterien bei der jeweiligen Auslegung darstellen können, wird etwa daran deutlich, dass das LSG im angefochtenen Urteil auf Seite 14 ausführt, bei den Teilnehmergemeinschaften nach dem Flurbereinigungsgesetz seien landwirtschaftliche Belange, wenn auch nicht unmittelbar, so doch noch in erheblichem Maße betroffen. Zwar heißt es in der amtlichen Begründung zu § 123 Abs 1 Nr 7 SGB VII, die Vorschrift entspreche dem geltenden Recht; ohne inhaltliche Änderung würden die hierdurch erfassten Unternehmen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung konkreter beschrieben (BT-Drucks 13/2204 S 104). Abgesehen davon, dass bei der Auslegung von Rechtsnormen im Zweifel deren objektiver Erklärungsinhalt und nicht die Gesetzesmaterialien ausschlaggebend sind, ist zu der genannten Gesetzesbegründung festzustellen, dass auch eine Konkretisierung eine inhaltliche Änderung ist, weil sie die bei einer allgemein gehaltenen Formulierung möglichen weiten Auslegungen einer Vorschrift in der Regel einschränkt. Im Übrigen hat die Beklagte in ihrer Beschwerdebegründung selbst eingeräumt, dass § 123 Abs 1 Nr 7 SGB VII vom Wortlaut her enger gefasst sei als die frühere Regelung in § 776 Abs 1 Nr 4 RVO.

Ist aber – wie hier – eine gesetzliche Bestimmung nicht durch eine inhaltsgleiche andere gesetzliche Bestimmung abgelöst worden, muss zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage dargestellt werden, dass noch über eine erhebliche Anzahl von Fällen nach altem Recht zu entscheiden oder die Frage für das neue Recht weiterhin von Bedeutung ist. Zum ersten Punkt hat die Beklagte in ihrer Beschwerdebegründung erklärt, dass Rechtsstreitigkeiten dieser Art nicht vorliegen können. Soweit die Beklagte zum zweiten Punkt vorträgt, die zu erwartende Entscheidung könne aus anderen Gründen richtungsweisend und daher trotz Zuordnung zum ausgelaufenen Recht noch klärungsbedürftig sein, lässt der Senat offen, welche Gründe insoweit als richtungweisend anzusehen sind. Hierzu hat allein das Bundesverwaltungsgericht in tragendem Zusammenhang eine in diesem Sinne begründete Ausnahme von der Regel in einem Fall angenommen, in dem die Fassung des aufgehobenen Gesetzes für die auf dessen Grundlage erlassenen gemeindlichen Gebührensatzungen unverändert von Bedeutung blieb (Beschluss vom 29. Januar 1975 – BVerwG 4 B 60.74 – Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 129). Gründe vergleichbarer Art sind von der Beklagten nicht geltend gemacht worden, insbesondere nicht, dass § 776 Abs 1 Nr 4 RVO nach In-Kraft-Treten des SGB VII für Satzungen der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften noch von Bedeutung sein könne. Die höchstrichterliche Auslegung alten Rechts kann aber jedenfalls nicht richtungweisend sein, wenn die neue Vorschrift den Gegenstand des alten Rechts inhaltlich anders regelt und die aufgehobene Vorschrift auch nicht als Grundlage von auf ihr beruhenden Satzungen bedeutsam bleibt. Unter dieser Voraussetzung kann richtungweisend in diesem Sinne auch nicht sein, dass im angefochtenen Urteil auf Schrifttum zu § 123 SGB VII verwiesen wird. Etwas anderes kann auch nicht aus dem Beschluss des Senats vom 30. Juni 1998 – B 2 U 28/98 B – geschlossen werden, mit dem die Revision in einem Rechtsstreit zugelassen wurde, der die Auslegung von § 788 RVO betraf. Denn wie sich dem in diesem Rechtsstreit ergangenen Revisionsurteil vom 10. August 1999 (SozR 3-2200 § 788 Nr 2) entnehmen lässt, hat der Senat § 788 RVO und § 175 SGB VII trotz der bestehenden Unterschiede in der Formulierung im Hinblick auf die aufgeworfene und zu entscheidende Rechtsfrage als inhaltlich gleich angesehen.

Die Beschwerde war daher als unzulässig zu verwerfen (§ 169 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1176653

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