Anforderungen für die positive Fortführungsprognose von Start-ups

Das OLG Düsseldorf bestätigt in einem Urteil v. 16.8.2023 seine Rechtsauffassung, wonach die Grundsätze, die der BGH für die Beurteilung der positiven Fortführungsprognose eines Unternehmens aufgestellt hat, bei Start-ups nicht uneingeschränkt anwendbar sind.

Überblick

Die Insolvenzordnung kennt 3 Insolvenzgründe für juristische Personen: die Zahlungsunfähigkeit, die drohende Zahlungsunfähigkeit und die Überschuldung. Überschuldet ist eine Gesellschaft, wenn ihr Vermögen ihre bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt; es sei denn, die Fortführung des Unternehmens in den nächsten 12 Monaten ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Die Beurteilung, ob eine Überschuldung vorliegt, erfolgt also in 2 Schritten: Zum einen wird geprüft, ob eine rechnerische Überschuldung besteht. Hierfür wird eine Überschuldungsbilanz erstellt, bei der alle Aktiva zu ihrem Liquidationswert anzusetzen sind und stille Reserven berücksichtigt werden. Zum anderen – und kumulativ – ist ein Unternehmen nur dann überschuldet, wenn ihm keine sog. „positive Fortführungsprognose“ attestiert werden kann.

Diese Prognose beruht ihrerseits auf 2 Pfeilern: Subjektiv muss die Schuldnerin einen Fortführungswillen aufweisen, objektiv muss sie für die nächsten 12 Monate überlebensfähig sein, was aufgrund eines aktualisierten Ertrags- und Finanzplanes festgestellt wird. Das kommentierte Urteil befasst sich insbesondere mit der Frage, wann Start-ups objektiv überlebensfähig sind und ob dabei andere Grundsätze gelten als bei anderen Unternehmen.

Sachverhalt

Das Start-up der kommentierten Entscheidung wurde 2014 gegründet. Es sollte eine Online-Börse für Gebraucht- und Nutzfahrzeuge betreiben und entwickelte hierfür über Jahre hinweg eine Software. Die Finanzierung erfolgte über ein „zur Stärkung des Eigenkapitals … in der Gründungsphase des Unternehmens … als Mezzanine-Kapital“ gewährtes und bis zum 31.12.2017 befristetes Darlehen eines Investors. Zum 31.12.2015 wies die Unternehmensbilanz einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag in Höhe von EUR 620.200 aus, während die Darlehensforderungen sich auf EUR 608.000 beliefen. Die Umsätze der Gesellschaft betrugen im Jahr 2015 rund EUR 12.000.

Zwischen dem 1.1.2016 und März 2016, als die Tätigkeit des Beklagten als Geschäftsführer des Start-ups endete, nahm er diverse Zahlungen von kreditorisch geführten Konten vor und ließ Einzahlungen von Dritten auf ein debitorisch geführtes Konto zu. Nachdem sein Nachfolger im Oktober 2016 Insolvenzantrag gestellt hatte, forderte der spätere Insolvenzverwalter den entsprechenden Betrag von dem Beklagten nach § 64 GmbHG a.F. (nun § 15b InsO) zurück, da er der Auffassung war, die Gesellschaft sei bereits am 31.12.2015 zahlungsunfähig gewesen.

Das LG Krefeld hatte die Klage des Insolvenzverwalters noch abgewiesen. Nach Auffassung des Gerichts bestand Anfang 2016 noch eine positive Fortführungsprognose. Unter Berücksichtigung der Besonderheiten eines Start-ups sei es danach ausreichend, wenn das Unternehmen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in der Lage sei, seine im Prognosezeitraum fällig werdenden Zahlungsverpflichtungen aufgrund der Bereitstellung externer Finanzierungsmittel zu decken. Da der Investor wiederholt mitgeteilt hatte, dass „er das Unternehmen finanzieren werde, solange er Vertrauen in das Geschäftsmodell und solange die Verluste nicht so hoch würden, dass er sie nicht mehr finanzieren könnte“, und ein solcher Verlust des Vertrauens Anfang des Jahres 2016 weder vorhanden noch für den Beklagten ersichtlich gewesen sei, war Anfang des Jahres 2016 noch von einer objektiven Überlebensfähigkeit des Start-ups auszugehen.

Die Entscheidung

Das OLG Düsseldorf trat dieser Auffassung durch Urteil v. 16.8.2023 (Az. 12 U 59/22) entgegen und bejahte die Überschuldung des Start-ups zum 31.12.2015.

Rechnerisch überschuldet war es, weil die immateriellen Vermögensgüter – also die entwickelte Software – entgegen der Behauptung des Beklagten in der Überschuldungsbilanz nicht unterbewertet wurden. Außerdem war die Zusage des Investors keine in der Überschuldungsbilanz aktivierbare „harte Patronatserklärung“. Harte Patronatserklärungen müssten aktiviert werden, wenn die Patronatserklärung zugunsten aller Gläubiger abgegeben wurde, der Anspruch gegen den Patron vollwertig sei, und es sich nicht um eine nur externe Patronatserklärung handele. Eine solche Verpflichtung könne der Aussage des Investors nicht entnommen werden. Außerdem enthielten die Darlehensverträge keinen qualifizierten Rangrücktritt, aus dem sich die mangelnde Passivierungspflicht der geschuldeten Beträge ergebe. Die Formulierungen „Stärkung des Eigenkapitals“ und „Mezzanine-Kapital“ könnte man zwar als Rangrücktritt deuten, die rechtlich verbindlichen Regelungen der Verträge stünden aber im Widerspruch dazu, da dem Darlehensgeber etwa ein außerordentliches Kündigungsrecht im Falle einer Verschlechterung der Vermögenssituation des Start-ups eingeräumt wurde und das Darlehen ohnehin zeitlich befristet war.

Darüber hinaus habe der Beklagte Anfang 2016 nicht von einer positiven Fortführungsprognose des Start-ups ausgehen dürften. Zwar gelten für Start-ups – so das OLG Düsseldorf – die Grundsätze, die der BGH für die Fortführungsprognose von Unternehmen aufgestellt habe, nur eingeschränkt: Start-ups seien in ihrer Anfangsphase regelmäßig nicht oder nur sehr begrenzt ertragsfähig, aber dennoch in Zukunft potenziell rentabel. Stellte man lediglich auf die aktuelle Ertragskraft solcher Unternehmen ab, würde man sie zum Marktaustritt zwingen. Es komme vielmehr darauf an, dass im Prognosezeitraum die Zahlungsunfähigkeit des Start-ups mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % nicht eintreten werde, wobei die erforderlichen Mittel dazu auch durch die Eigentümer oder Fremdkapitalgeber zur Verfügung gestellt werden können. Voraussetzung sei allerdings, dass diese Prognoseentscheidung auf einer nachvollziehbaren, realistischen (Finanz-)Planung mit einem operativen Konzept beruhen und die Fremdfinanzierung von dieser Planung abhinge. Sei das Start-up nämlich auch perspektivisch nicht ertragsfähig, sei vorprogrammiert, dass auch eine Fremdfinanzierung an ihre Grenzen stoßen werde.

Im konkreten Fall wurde dem beklagten Geschäftsführer zum Verhängnis, dass er nicht beweisen konnte, monatliche Finanzpläne erstellt und sie mit dem Investor abgestimmt zu haben. Darüber hinaus ergab die Beweisaufnahme, dass der Investor die Entscheidung zur Fortsetzung der Finanzierung nicht von der Finanzplanung des beklagten Geschäftsführers abhängig machte, sondern von den Planungen des damaligen Start-up-Gründers, der nicht Mitglied der Geschäftsführung war.

Anmerkungen

Die – durch dieses Urteil bestätigte – Auffassung des OLG-Düsseldorfs, dass die positive Fortführung von Start-ups nicht allein nach ihrer Selbstfinanzierungskraft beurteilt werden muss, ist realitätsnah und verdient grundsätzlich Zustimmung. Start-ups werden nicht selten in ihrer Anfangsphase von Investoren am Leben gehalten, die auf eine hohe Rendite in – mehr oder weniger – weiter Zukunft spekulieren. Die Situation des streitgegenständlichen Start-ups, das im zweiten Jahr seines Bestehens bei einem Umsatz von EUR 12.000 Schulden von über EUR 600.000 vor sich hertrieb, ist dabei keine Seltenheit. Müssten verschuldete Start-ups von ihrem Gründungszeitpunkt an selbstfinanzierungsfähig sein, um als objektiv überlebensfähig zu gelten, würden sie regelmäßig noch vor ihrem Markteintritt Insolvenz anmelden müssen. Zahlreiche innovative Geschäftsideen würden somit nie das Licht der Welt erblicken.

Wie einige Kommentatoren zutreffend hervorheben (Baumert, NZI 2024, 76, 83, m.w.N.), ist indes zweifelhaft, ob das OLG-Düsseldorf sich mit dieser Rechtsprechung wirklich in Widerspruch zur Linie des BGH setzt. Auch der BGH stellt für die Beurteilung der positiven Fortführungsprognose auf eine Einzelfallbetrachtung ab und auch der BGH hat bereits angedeutet, dass in Ausnahmefällen eine weiche Patronatserklärung oder „sonstige Umstände“ im Rahmen dieser Fortführungsprognose berücksichtigt werden können. Es spricht also viel dafür, dass bei Erfüllung des durch das OLG Düsseldorf aufgestellten Voraussetzungen, auch der BGH eine positive Fortführungsprognose bejahen würde.

Ein Start-up ist danach nicht schon deshalb insolvent, weil es rechnerisch überschuldet und noch nicht aus eigener Kraft heraus finanzierungsfähig ist. Solange (1) das Start-up über eine realistische Ertrags- und Finanzplanung verfügt, (2) die zu einem gewissen Zeitpunkt nachvollziehbarerweise eine Ertragsfähigkeit aufweist und (3) Dritte aufgrund dieser Planung die Finanzierung des Start-ups mindestens für die nächsten 12 Monate zugesagt haben – unter Umständen selbst durch weiche Patronatserklärungen – können Start-up-Gründer von der positiven Fortführungsprognose ihres Unternehmens ausgehen.

(OLG Düsseldorf, Urteil v. 16. 8.2023,12 U 59/22)

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