Die Schwankungsbreite der Rechtsprechung in der Schrittgeschwindigkeit reicht somit von "4–7" bis zumindest 15 km/h. Die jeweiligen Entscheidungen sind zudem sehr apodiktisch, da kaum nachvollziehbar begründet wird, warum die jeweilige Definition der Schrittgeschwindigkeit die zutreffende sein soll. Die Entscheidung des OLG Naumburg enthält zwar eine Abgrenzung zwischen der Schrittgeschwindigkeit mit max. 10 km/h und dem Laufen, diese ist streng anthropologisch aber zu restriktiv, wie die (hier weiter unten erläuterten) von Spitzengehern erzielten Höchstgeschwindigkeiten zeigen.

Auch für sich gesehen sind die jeweiligen Definitionen oft nicht abschließend: Ist aus der Definition des OLG Brandenburg "bis zu 7 km/h gilt noch als Schrittgeschwindigkeit" zu schließen, dass ab 8 km/h der sanktionierte Bereich beginnt oder nur unter Umständen beginnen könnte? Bei der zweiten Auslegung schlösse sich dann notwendigerweise an, welche Umstände dies sein könnten und ob diese dem Bestimmtheitsgebot gerecht werden könnten.

Nur die Definitionen des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg und Königs verbinden mit ihren Definitionen zugleich auch offen ein Motiv. Der subjektive Maßstab "stets ein rechtzeitiges Stoppen" ist funktional und weitergehender als eine absolute und schon für sich gesehen abschließende Definition einer Geschwindigkeit, da die Fähigkeit "rechtzeitig stoppen" zu können, individuell recht verschieden sein kann. Sie passt daher eher zur Tatbestandsbeschreibung der "nicht angepassten Geschwindigkeit" der Nr. 146a des Bußgeldkatalogs. Damit wäre eine standardisierte Messung von Geschwindigkeiten für eine Ahndung allein aber nicht mehr anwendbar und mit der zusätzlichen Überprüfung des konkreten Reaktionsvermögens des Betroffenen sowie der konkreten Tatumstände nicht mehr praktikabel.

Stellt man dagegen auf die dem Menschen maximal mögliche Schrittgeschwindigkeit als Höchstgeschwindigkeit ab, ergibt sich die Frage, ob die des Durchschnittfußgängers oder die eines Olympiateilnehmers im Gehen zugrunde gelegt werden soll. Der Rekord im 50-km-Gehen ergibt eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 13,63 km/h.[12] Auf kürzeren Strecken sind sicherlich auch signifikant höhere Geschwindigkeiten möglich. Wenn es die statistisch gemittelte Durchschnittsgeschwindigkeit aller zu Fuß am Verkehr Teilnehmenden sein soll, müsste diese amtlich ermittelt und bekannt gemacht werden.[13]

Um nicht die maximal mögliche Schrittgeschwindigkeit zum Maßstab nehmen zu müssen, wird gelegentlich der Begriff der normalen Schrittgeschwindigkeit verwendet,[14] was im Ergebnis die Sache nicht klarer erscheinen lässt. Soll es sich dabei um eine durchschnittliche Geschwindigkeit aller Fußgänger handeln oder um einen Medianwert? Sollen zur Ermittlung nur die Schrittgeschwindigkeiten von nichtgehbehinderten Fußgängern einbezogen werden? Handelt es sich bei einer "schnellen Schrittgeschwindigkeit" noch um eine erlaubte Schrittgeschwindigkeit, weil sie sich noch in einer Bandbreite um die normale Schrittgeschwindigkeit herum bewegt oder wird sie nur durch die maximal mögliche Schrittgeschwindigkeit begrenzt?

Gerade Be- und Verurteilungen aufgrund des Bußgeldkataloges setzen eine klare Definition von Übertretungen voraus, um zu einer Regelbuße zu gelangen oder von ihr ausgehend Zu- oder Abschläge zu berücksichtigen. Fehlt es bereits auf Tatbestandsebene an einer klaren Definition, wann eine Übertretung vorliegt, ist auch die Definition einer regelmäßigen Rechtsfolge, wie im Bußgeldkatalog, mangels hinreichender Vergleichbarkeit nicht sinnvoll.

Auch wenn eine Sanktion erst bei einer Geschwindigkeit einsetzen soll, die "wesentlich schneller" als die vorgegebene Schrittgeschwindigkeit gewesen sein soll[15] trägt dies nicht zwingend zur Klarheit bei.[16] Im Gegenteil, denn hier muss weiterhin geklärt werden, was Schrittgeschwindigkeit ist und zusätzlich, was "wesentlich schneller" heißt. Die Kombination eines unbestimmten Rechtsbegriffs mit einem weiteren unbestimmten Rechtsbegriff führt eher zu zusätzlicher Ungenauigkeit.

[12] Wikipedia, Seite: 50-km-Gehen, abgerufen 1.1.2018.
[13] Ggf. könnten demografische Veränderungen in der Bevölkerung sogar eine Neuermittlung erfordern, die über längere Zeit gesehen vielleicht 1 oder 2 km/h ausmachen könnten.
[14] OVG NRW, Urt. v. 18.5.2000 – 7 A 1155/99.
[15] BayObLG DAR 2001, 37.
[16] Praktisch relevant ist dies in Fällen, in denen ausnahmsweise die Schätzung eines in der Verkehrsüberwachung besonders erfahrenen Beamten Beweiswert zukommen könnte., Gebhardt, Das verkehrsrechtliche Mandat, Bd. 1, 8. Aufl., § 20 Rn 19.

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