Kann das Luftfahrtunternehmen in der ersten Stufe darlegen und ggf. beweisen, dass ein außergewöhnlicher Umstand vorlag, so hat es zu seiner Entlastung dann in der zweiten Stufe außerdem noch substantiiert vorzutragen und ggf. unter Beweis zu stellen, dass sich die Annullierung bzw. große Verspätung auch bei Ergreifung aller zumutbaren Maßnahmen nicht hätte vermeiden lassen.

Diesbezüglich zeichnet sich im Berichtszeitraum 2014 eine Änderung der Rechtsprechung des BGH ab. Welche Maßnahmen einem Luftfahrtunternehmen zuzumuten sind, um zu vermeiden, dass außergewöhnliche Umstände zu einer großen Verspätung eines Fluges führen oder Anlass zu einer Annullierung geben, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls; die Zumutbarkeit ist situationsabhängig zu beurteilen.[24] Insoweit entspricht die Rechtsprechung des BGH noch der des EuGH und ist nicht überraschend. Inhaltlich neu sind jedoch die Ausführungen des BGH zur Frage des Vorhaltens von Ersatzflugzeugen. Nach Ansicht des BGH begründe die Fluggastrechte-Verordnung keine Verpflichtung der Luftverkehrsunternehmen, ohne konkreten Anlass Vorkehrungen wie etwa das Vorhalten von Ersatzflugzeugen zu treffen, um den Folgen außergewöhnlicher Umstände begegnen zu können.[25] Der BGH führt weiter aus, dass sich hieraus auch keine Beeinträchtigung des von der Fluggastrechte-Verordnung angestrebten hohen Schutzniveaus ergebe, da dieses nicht durch erhöhte Anforderungen an die Organisation und Zuverlässigkeit des Flugbetriebs erreicht werden solle, sondern dadurch, dass den Fluggästen in den in der Verordnung geregelten Fällen Unterstützungsleistungen und gegebenenfalls Ausgleichszahlungen zustehen. Habe etwa ein technischer Defekt eine Annullierung oder große Verspätung zur Folge, habe das Luftverkehrsunternehmen hierfür unabhängig davon einzustehen, ob es etwa durch größere sachliche Ressourcen die Annullierung oder Verspätung wegen des Defekts hätte vermeiden können. Umgekehrt gelte aber auch in den Fällen außergewöhnlicher Umstände, dass allein die vorhandenen oder in der gegebenen Situation erreichbaren Ressourcen den Maßstab für die zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung einer Annullierung oder großen Verspätung bilden.

Die Argumentation des BGH überzeugt in diesem Punkt nicht. Anders als vom BGH unterstellt, wird durch ein generelles Absehen von einer Verpflichtung zum Vorhalten von Ersatzflugzeugen sehr wohl das angestrebte hohe Schutzniveau der Fluggastrechte-Verordnung beeinträchtigt. Im Ergebnis würden dem betroffenen Fluggast nämlich gerade keine Ausgleichsleistungen zustehen, wenn sich das Luftfahrtunternehmen zur eigenen Entlastung beim Vorliegen außergewöhnlicher Umstände lediglich aus den konkret vorhandenen oder erreichbaren Ressourcen bedienen müsste. Ein Luftfahrtunternehmen könnte also letztlich selbst bestimmen, welche Maßnahmen ihm "zumutbar" sind, indem es die eigenen Ressourcen bzw. Reserven bewusst reduziert. Der BGH verkennt auch, dass die Zahlung von Ausgleichsleistungen bei Annullierungen bzw. großen Verspätungen gerade den Regelfall nach der Verordnung darstellt. Die Entlastungsmöglichkeit nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung ist lediglich eine Ausnahme von der Regel – und somit eng auszulegen.[26] Selbstverständlich soll es dem Luftfahrtunternehmen unbenommen bleiben, sich im Rahmen seiner betriebswirtschaftlichen Planungen für oder gegen das Vorhalten von Ersatzflugzeugen zu entscheiden. Hält es keine Ersatzmaschinen vor, so reduziert es seine laufenden Kosten bei normalem Betrieb. Hält das Luftfahrtunternehmen hingegen doch Ersatzmaschinen vor, so kann es ggf. im Annullierungs- oder Verspätungsfall die Verpflichtung zur Zahlung von Ausgleichszahlungen verhindern. Mit Blick auf die in den Erwägungsgründen Nr. 1 bis 4 zur Verordnung hervorgehobene Zielsetzung, die Rechte der Fluggäste zu stärken, sollte sich das Flugunternehmen allein mit Blick auf den in seiner Organisation angelegten Entscheidungskonflikt somit nicht nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung entlasten können.[27] Zu Gunsten der Luftfahrtunternehmen bleibt wohl zu berücksichtigen, dass Ersatzmaschinen ohnehin nur bei einer gewissen Flottenstärke bzw. Flottenstruktur zumutbar sind. Außerdem wird man allenfalls erwarten können, dass das Unternehmen an seiner Homebase oder vielleicht noch an größeren Drehkreuzen Ersatzmaschinen bereit hält. Das Luftfahrtunternehmen wird also ohnehin nicht jede erdenkliche Annullierung oder Verspätung durch das Vorhalten von Ersatzmaschinen gänzlich verhindern können. Allerdings dürfte die pauschale Feststellung des BGH, dass von einem Luftfahrtunternehmen (gleich welcher Größe) überhaupt nicht erwartet werden kann, Ersatzflugzeuge bereit zu halten, zu weit gehen. Die beiden Urteile des BGH vom 12.6.2014 wurden in der Fachliteratur heftig kritisiert, auch weil der BGH die relevanten Rechtsfragen nicht dem EuGH vorgelegt hat.[28] Gegen die beiden genannten Urteile wurde jeweils Verfassungsbeschwerde erhoben.

[24] BGH, Urt. v. 12.6.2014 – X ZR 104/13, Rn 20; X...

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