Droht ein Dämpfer für die Elektromobilität?

Die Elektromobilität ist in aller Munde. Die ersten Elektroautos sind auf den Straßen zu bewundern, aber nicht zu hören. Genau dies – so die Befürworter der Elektromobilität – sei neben den Umweltaspekten der entscheidende Vorteil. Man träumt von einem nahezu geräuschlosen Straßenverkehr, dessen Idylle vielleicht noch einmal durch ein Hupen oder eine Fahrradklingel gestört wird.

Was für den einen ein entscheidender Vorteil ist, stellt für den anderen ein erhebliches Risiko dar. Zwar ist man bei einem Verkehrsunfall zwischen einem Kfz und einem Radfahrer oder Fußgänger, der nicht durch das Kfz verursacht wurde, schnell bei dem Vorwurf, dass man doch nur richtig hätte schauen müssen. Das mag zwar in einer Vielzahl von Fällen zutreffend sein. Zu berücksichtigen ist aber, dass der nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer auch auf die Geräuschkulisse des Straßenverkehrs angewiesen ist und aus dieser Rückschlüsse zieht. Noch viel bedeutender ist die Geräuschkulisse für einen Blinden oder Sehbehinderten. Dieser hat im Wesentlichen nur über die Geräuschkulisse die Möglichkeit, sich auf den motorisierten Straßenverkehr einzustellen.

Nimmt man heute ein Elektroauto im Straßenverkehr wahr, liegt dies häufig daran, dass man überrascht ist, dass plötzlich ein Kfz da ist, das man im Vorfeld aber gar nicht bemerkt hat. Gerade das nahezu geräuschlose Dahingleiten eines Elektroautos führt zu Bewunderung und bei manch einem auch zu einem gewissen Neid. Das leise Surren eines Elektroautos ist aber für einen Blinden oder Sehbehinderten erst sehr spät wahrzunehmen, stellt also ein erhebliches Gefährdungspotenzial dar.

Stellt man sich nun die Zukunft dahingehend vor, dass irgendwann einmal alle motorisierten Kfz mit einem Elektromotor angetrieben werden, mag zwar das Idyll einer nahezu geräuschlosen Innenstadt verlockend sein, es dürfte aber unweigerlich zu einer nicht unerheblichen Steigerung der Unfallzahlen führen.

Vor diesem Hintergrund ist es mehr als begrüßenswert, dass die Blinden- und Sehbehindertenverbände erreichen konnten, dass ab dem 1.7.2019 neue Elektroautotypen in Europa mit einem sog. AVAS (Acoustic Vehicle Alerting System) ausgerüstet sein müssen und für alle ab Sommer 2020 in den Verkehr gebrachten rein batterieelektrischen Autos, sowie für Plug-in-Hybride und Brennstoffzellenfahrzeuge eine solches System vorgeschrieben ist. Zu diesen Fahrzeugen zählen nicht nur Pkws, sondern auch Nutzfahrzeuge. Die einschlägige EU-Verordnung sieht vor, dass das Fahrzeug bis zu einer Geschwindigkeit von 20 km/h einen Ton abzustrahlen hat, der dem Ton eines Verbrennungsmotors nachempfunden ist. Dieser Ton muss beim Beschleunigen variieren. Auch Rückfallgeräusche sind verpflichtend, während Standgeräusche optional sind.

Nachdem hierüber unter dem 30.10.2018 auf SPIEGEL ONLINE berichtet wurde, wurde dieser Bericht von einem Leser wie folgt kommentiert: "Das wäre das erste, was ich nach dem Kauf stilllegen würde, notfalls mit einem Seitenschneider". Manch einer befürchtet auch schon das Ende der Begeisterung für die Elektromobilität. Der Traum von einer in naher Zukunft fast geräuschlosen Innenstadt sei dahin, so Kritiker.

Ganz abgesehen davon, dass das Hauptargument für eine Elektromobilität die Umwelt ist und bleibt, kann man den Einsatz der Blinden- und Sehbehindertenverbände nicht genug loben. Es mag zwar schön sein, nun noch ein leichtes Summen wahrzunehmen, höhere Unfallzahlen sind hierfür aber keinesfalls in Kauf zu nehmen. So hat die US-amerikanische Verkehrsbehörde NHTSA herausgefunden, dass Elektroautos ohne AVAS zu 37 % häufiger in Unfälle mit Fußgängern verwickelt sind als Fahrzeuge mit einem Verbrennungsmotor (Studie aus Oktober 2011, DTO HS 811 256).

Es wäre daher auch fatal, dieses Problem als "Luxusproblem" abzutun. Das Thema betrifft alle am Straßenverkehr beteiligten Personen. Wer meint, wegen des genannten Systems kein Elektroauto mehr anschaffen zu können, ist zum Kern der Elektromobilität noch nicht vorgedrungen. Auch wenn es auf den ersten Blick befremdlich erscheint: Es ist gut, dass Autos auch wie Autos klingen und der Straßenverkehr lärmt!

Autor: Stefan Herbers

RA Stefan Herbers, FA für Verkehrsrecht, Oldenburg

zfs 12/2018, S. 661

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