Bei einem Rückstau auf einer mehrspurigen bevorrechtigten Straße mit Kolonnenbildung lassen häufig Verkehrsteilnehmer in der Kolonne Lücken frei, um Verkehrsteilnehmern aus der untergeordneten Straße die Einordnung in die Fahrspur neben der Kolonne zu ermöglichen. Überquert der an sich wartepflichtige Verkehrsteilnehmer die Lücke, und ordnet er sich auf der Fahrspur neben der Kolonne ein, besteht die für diese Konstellation typische und häufig verwirklichte Gefahr einer Kollision mit Fahrzeugen auf dieser Spur.

1. Ohne die für diese atypische Vorfahrtssituation entwickelte "Lückenrechtsprechung" wäre von einer alleinigen Haftung des die Lücke durchfahrenden Wartepflichtigen auszugehen. Bei der Haftungsabwägung fiele die Vorfahrtverletzung gegenüber dem bevorrechtigten Verkehr ihm zur Last (§ 8 StVO), da auch die dem bevorrechtigten Fahrzeug zukommende Betriebsgefahr bei der Haftungsabwägung unberücksichtigt bliebe (vgl. Hagspiel, NZV 2013, 115, 116 m.w.N.). Etwas anderes ließe sich auch nicht daraus ableiten, wenn der hilfsbereite Fahrer, der die Lücke in der Kolonne gebildet hatte, mit einem Handzeichen zu dem Durchfahren der Lücke aufgefordert hatte. Das Handzeichen hatte keine Bedeutung für andere Verkehrsteilnehmer, insb. auch für den späteren Unfallgegner (vgl. KG NZV 2006, 371; Hagspiel a.a.O.).

2. Die aus § 11 StVO abgeleitete Lückenrechtsprechung stellt eine Ausnahmeregelung zu der rigiden alleinigen Haftung des Wartepflichtigen dar. Die Begründung hierfür hat das KG in einem Urteil im Jahre 1976 entwickelt (VersR 1977, 152). Die Lückenrechtsprechung stelle "eine Ausprägung der sich aus § 1 Abs. 2 StVO ergebenden allgemeinen Pflichten der Verkehrsteilnehmer in besonderen Situationen dar und berücksichtigt die zur Lösung der sich aus dem modernen Massenverkehr in Großstädten ergebenden Verkehrsprobleme geschaffene Regelung des § 11 Abs. 1 StVO. … Die besondere Sorgfaltspflicht beim Vorbeifahren an einer ins Stocken geratenen Kolonne im dichten Verkehr ist ein Gebot der Rücksichtnahme auf zwingende Verkehrsbedürfnisse derjenigen Kraftfahrer, welche die bevorrechtigte Fahrtrichtung kreuzen wollen; ihnen muss Gelegenheit gegeben werden, mit der gebotenen Vorsicht Lücken in der Kolonne auszunutzen. Andernfalls wäre es gerade im geballten, innerstädtischen Verkehr den kreuzenden oder abbiegenden wartepflichtigen Fahrzeugführern häufig auf unzumutbare lange Zeit verwehrt, in der beabsichtigten Fahrtrichtung weiterzukommen. Weil es zudem immer wieder vorkommt, dass sich die durch die Lücke fahrenden Kraftfahrzeugführer auf Winkzeichen der vor der Straßeneinmündung haltenden Fahrer verlassen und es deshalb an der gebotenen Sorgfalt gegenüber dem Verkehr auf den übrigen Spuren fehlen lassen, liegt in derartigen Situationen die Gefahr von Vorfahrtsverletzungen besonders nahe. Dem muss der Vorfahrtsberechtigte in dieser besonderen Situation bis zu einem gewissen Grade Rechnung tragen, ohne dass damit ein Freibrief für verkehrswidriges Verhalten des Wartepflichtigen geschaffen wird."

3. Die Besonderheit der Lückenrechtsprechung zeigt sich darin, dass abweichend von der grds. alleinigen Haftung des Wartepflichtigen unter Zugrundelegung von Sorgfaltspflichten des Bevorrechtigten ("Geradeausfahrers") und des Wartepflichtigen Ausnahmen angenommen werden. Vorwiegend wird dem Geradeausfahrer abverlangt, dass er bei erkannten Lücken seine Fahrweise so einzurichten hat, dass er vor etwa unvorsichtig aus der Lücke Ausfahrenden halten kann (vgl. KG VersR 1977, 157; OLG Köln VersR 1973, 1074; OLG Hamm NZV 2014, 176, 177; LG Ulm DAR 1980, 23; Hagspiel a.a.O., S. 117). Hinsichtlich des Maßes der Geschwindigkeitsreduzierung gehen einzelne Entscheidungen davon aus, dass der Geradeausfahrer jederzeit anhalten können müsse. Der grds. Wartepflichtige hat einem strengeren Sorgfaltsmaßstab zu genügen, da er sich aus der Lücke in die Fahrbahn nur zentimeterweise hineintasten muss (KG NZV 1999, 85; Hagspiel a.a.O. S. 117 m.w.N.).

Hinsichtlich der Mithaftung des Geradeausfahrers ist bei einer Kollision mindestens die Betriebsgefahr mit 25 % anzusetzen (vgl. OLG Hamm VersR 1979, 266). Je nach den Besonderheiten des Sachverhalts werden auch abweichende Haftungsquoten angenommen (vgl. Grüneberg, Haftungsquoten, 14. Aufl., Rn 239).

4. Kein klares Bild bietet die Auseinandersetzung, ob die Lückenrechtsprechung für den praxiswichtigen Fall der Tankstellenausfahrten heranzuziehen ist. Eine uneingeschränkte Übernahme der Lückenrechtsprechung erscheint nicht angezeigt, da für diese Ausfahrten der strenge Sorgfaltsmaßstab des § 10 StVO gilt (KG VersR 1977, 138; KG NZV 1998, 378; vgl. auch LG Saarbrücken NZV 2013, 494; LG Saarbrücken NJW-RR 2016, 1004; Hagspiel a.a.O. S. 118 f. m.w.N. zu der Anwendung der Lückenrechtsprechung).

RiOLG a.D. Heinz Diehl

zfs 10/2017, S. 557 - 560

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