Leitsatz (amtlich)

Wer bei dichtem Verkehr an einer zum Stehen gekommenen Fahrzeugkolonne vorbeifährt, muss bei erkennbaren Verkehrslücken i.H.v. Kreuzungen und Einmündungen trotz seiner Vorfahrt seine Fahrweise so einrichten, dass er auch vor unvorsichtig aus der Lücke herausfahrenden Fahrzeugen rechtzeitig anhalten kann.

 

Normenkette

StVG § 7; StVO § 5 Abs. 3 Nr. 1, § 8

 

Verfahrensgang

LG Paderborn (Aktenzeichen 3 O 227/12)

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen der Kläger zu 82 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 18 %.

Die Kosten des Rechtsstreits zweiter Instanz trägt der Kläger.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

I. Gemäß § 540 Abs. 1 ZPO wird auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils Bezug genommen, soweit sich aus dem Nachfolgenden nichts anderes ergibt. Durch das angefochtene Urteil hat das LG nach Anhörung des Beklagten zu 1) und der Vernehmung von Zeugen eine Haftung der Beklagten i.H.v. 2/3 angenommen und die Beklagten unter Abweisung der weiter gehenden Klage verurteilt, an den Kläger über die während des Rechtsstreits erster Instanz einschließlich Nebenforderungen gezahlten 2.982,48 EUR hinaus weitere 2.622,89 EUR nebst Zinsen und anteiliger Nebenforderungen zu zahlen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten.

Sie meinen, die nach § 17 Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung ergebe allenfalls eine Haftung der Beklagten von 1/3. Berechtigte Ansprüche des Klägers seien daher durch die im Laufe des Rechtsstreits erster Instanz geleistete Zahlung erfüllt.

Die Beklagten beantragen, das angefochtene Urteil teilweise abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung seines erstinstanzlichen Sachvortrags.

Die Akte 32 Js-Owi 896/12 StA Paderborn lag vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

II. Die Berufung der Beklagten ist begründet. Auf das Rechtsmittel der Beklagten hin war das angefochtene Urteil teilweise abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Denn die Beklagten haften dem Kläger gem. §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 823 Abs. 1 BGB, 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG nur mit einem Drittel für die dem Kläger durch den Verkehrsunfall vom 29.3.2012 in I entstandenen Schäden. Nachdem die Beklagten im Laufe des Rechtsstreits ausgehend von einer Haftung von 1/3 an den Kläger insgesamt 2.982,48 EUR gezahlt haben, stehen dem Kläger keine weiter gehenden Ansprüche mehr zu.

Der Unfall hat sich bei dem Betrieb der beteiligten Kfz ereignet und war für keinen der Beteiligten Folge höherer Gewalt, § 7 Abs. 2 StVG, noch unabwendbar i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG.

In die somit nach § 17 Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge fließen neben der Betriebsgefahr der unfallbeteiligten Fahrzeuge auch ein eventuelles schuldhaftes Verhalten der Fahrzeugführer ein. Dabei sind nur solche Umstände in die Abwägung einzubeziehen, die unstreitig oder bewiesen sind und sich unfallursächlich ausgewirkt haben.

Ein Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ist aus Rechtsgründen zu verneinen. Denn die Überholverbote nach Abs. 3 und Abs. 3a schützen den Gegenverkehr, Vorausfahrende und den nachfolgenden Verkehr, die durch falsches Fahren des Überholenden gefährdet werden können (König in HentschelKönigDauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 5 Rz. 33), nicht aber den aus einer im Querverkehr befindlichen nachgeordneten Straße Einfahrenden (KG KGReport Berlin 2009, 235; juris) Der Beklagte zu 1) hat durch seine Fahrweise aber unfallursächlich gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Grundsätzlich durfte der Beklagte zu 1) auf die Beachtung seines Vorfahrtsrechts durch die Zeugin G vertrauen. Dieser Grundsatz ist jedoch eingeschränkt durch die sog. Lückenrechtsprechung. Danach gilt: wer bei dichtem Verkehr an einer zum Stehen gekommenen Fahrzeugkolonne vorbeifährt, muss bei erkennbaren Verkehrslücken i.H.v. Kreuzungen und Einmündungen trotz seiner Vorfahrt seine Fahrweise so einrichten, dass er auch vor unvorsichtig aus der Lücke herausfahrenden Fahrzeugen rechtzeitig anhalten kann (§ 1 Abs. 2 StVO, vgl. dazu KG, a.a.O.). Er muss es insbesondere Verkehrsteilnehmern im Querverkehr ermöglichen, aus der freigehaltenen Lücke heraus bis zur Erlangung freier Sicht auf den vor der haltenden Kolonne nicht besetzten Straßenraum herauszufahren. Dazu muss er entweder in ausreichendem Sicherheitsabstand an der Kolonne vorbeifahren oder eine so geringe Geschwindigkeit einhalten, dass er notfalls vor einem aus der Lücke herausfahrenden Verkehrsteilnehmer anhalten kann.

Es kann dahin stehen, ob die von dem Zeugen G2 mit seinem mit Holzstämmen beladenen Lkw offen gehaltene Lücke für den Beklagten zu 1) als solche erkennbar war. Jedenfalls waren dem Beklagten zu 1) die Örtlichkeiten bekannt, so dass er mit dem Vorhandensein einer Lücke vor der Einmündung der Straße "X" rechnen musste. Angesichts...

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