[21] II. Die Berufung der Klägerin hat Erfolg, soweit sie eine Feststellung der Haftung der Beklagten dem Grunde nach zu 50 % begehrt. Insoweit liegen die Voraussetzungen für ein Grundurteil nach § 304 ZPO vor. Im Übrigen ist die Sache auf den Hilfsantrag der Klägerin zur Entscheidung über die Höhe und die Kosten an das Landgericht zurückzuverweisen.

[22] Das angefochtene Urteil weist Rechtsfehler auf, die zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen teilweise eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO). Das Landgericht hat das Verschulden des Beklagten zu 1) nicht ausreichend und den Mitverursachungsbeitrag der Klägerin am Unfall zu hoch bewertet. Die Klage ist dem Grunde nach zu 50 % gerechtfertigt und in diesem Umfang war dem Feststellungsantrag stattzugeben (dazu unter 1). Wegen des streitigen Vortrags zur Schadenshöhe und wegen der Kosten ist die Sache gem. § 538 Abs. 2 Nr. 4 ZPO auf den Hilfsantrag der Klägerin an das Landgericht zurückzuverweisen (dazu unter 2).

[23] 1. Die Beklagten trifft hier eine Gefährdungshaftung aus §§ 7, 8a, 18 StVG. Diese Betriebsgefahr ist im vorliegenden Fall durch einen Verkehrsverstoß gesteigert worden, denn der Beklagte zu 1) hat beim Abbiegen zugleich gegen § 37 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 9 Abs. 3 StVO verstoßen. Die Voraussetzungen für ein Zurücktreten der Betriebsgefahr wegen unzureichender Eigensicherung des Fahrgastes liegen nicht vor (vgl. hierzu auch OLG Hamm, Urt. v 29.4.2022 – 11 U 198/21, juris n. w. N.).

[24] Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1, Satz 2 StVO bedeutet zwar das hier für den Beklagten zu 1) gültige grüne Ampellicht an der Kreuzung, dass er nach den Regeln des § 9 StVO abbiegen darf. Nach § 9 Abs. 3 StVO muss jedoch, wer abbiegen will, u.a. auf zu Fuß Gehende besondere Rücksicht nehmen; wenn nötig, ist zu warten.

[25] Der Beklagte zu 1) hat beim Linksabbiegen unstreitig die Zeugin K. übersehen und musste infolgedessen eine scharfe Notbremsung vornehmen. Dieser Verkehrsverstoß ist in die Haftungsabwägung einzubeziehen, obwohl es nicht die geschädigte Klägerin war, deretwegen die Notbremsung vollzogen wurde. Das Bremsen stellt sich nicht als normaler Bremsvorgang im fließenden Straßenverkehr dar, sondern als Notbremsung, die gleichwohl eine Kollision mit der Fußgängerin nicht zu verhindern vermochte. Der plötzliche und scharfe Bremsvorgang des Busses war auf dem Video gut zu beobachten.

[26] Die Klägerin hat sich ein Mitverschulden gemäß § 9 StVG, § 254 BGB anrechnen zu lassen. Gemäß § 4 Abs. 3 Satz 5 der Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Busverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen vom 27.2.1970 (BGBl I S. 230) in der Fassung vom 21.5.2015 (BGBl I S. 782, spätere Änderungen des Gesetzes erfolgten nach dem Unfallereignis) ist jeder Fahrgast verpflichtet, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen. Zwar streitet hier zu Lasten der Klägerin nicht der Beweis des ersten Anscheins eines Verschuldens. Denn ein solcher Anscheinsbeweis greift bei Stürzen in Bussen und Straßenbahnen nur dann ein, wenn keine außergewöhnlichen Fahrereignisse vorliegen (vgl. OLG Celle, Urt. v. 2.5.2019 – 14 U 183/18, BeckRS 2019, 14377, Rn 9+10; OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 16. 7. 2012 – 3 U 293/11, NZV 2013, 77). Hier liegt indes ein außergewöhnliches Fahrereignis vor, weil der Linienbus einen Unfall verursacht hat.

[27] Gleichwohl trägt die Klägerin hier ein erhebliches Mitverschulden. Jeder Fahrgast ist grundsätzlich selbst dafür verantwortlich, dass er durch typische oder zu erwartende Bewegungen eines Busses nicht zu Fall kommt (vgl. KG, Urt. v. 7. 5. 2012 – 22 U 251/11, NZV 2013, 78). Hierfür ist es gerade beim fortgeschrittenen Alter eines Fahrgastes erforderlich, sich mit beiden Händen an der Haltestange festzuhalten (vgl. OLG Düsseldorf Urt. v. 10.2.2015 – 1 U 71/14, BeckRS 2015, 122527 Rn 48). Dieser Obliegenheit ist die Klägerin unstreitig nicht nachgekommen, weil sie sich an der Haltestange nur mit einem einhändigen Griff gesichert hatte. Dies genügt nicht, um auch bei ruckartigen Fahrt- oder Bremsbewegungen nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Damit ist jederzeit zu rechnen. Insbesondere im Stadtverkehr muss ein Fahrgast mit plötzlichen Bremsmanövern jederzeit rechnen und das bei der Wahl der Sicherheitsvorkehrungen berücksichtigen (vgl. BeckOGK/Ballhausen, 1.9.2022, HPflG § 12 Rn 43). Trotz ausgelöstem Haltesignal hatte die Klägerin außerdem ihren sicheren Sitzplatz, der in unmittelbarer Nähe zum hinteren Ausgang lag, vorzeitig verlassen und war schon aufgestanden, bevor der Bus die Haltestelle erreicht hatte.

[28] Der Senat schließt sich im Übrigen den Ausführungen des Kammergerichts (Beschl. v. 29.6.2010 – 12 U 30/10, NZV 2011, 197, 199) zu den Grundsätzen der Abwägung beiderseitiger Verursachungs- und Verschuldensanteile beim Sturz von Fahrgästen nach §§ 7, 9, 18 StVG, § 254 BGB an:

[29] Hiernach verdrängt das Eigenverschulden des Fahrgastes, der sich nicht ordnungsgemäß festgehalten hat, die ...

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