Da die Reparaturkosten bei der Ermittlung der 130 %-Grenze ex-ante auf der Grundlage eines Gutachtens in Ansatz gebracht werden, kann der Fall eintreten, dass der tatsächliche Reparaturaufwand über die 130 %-Grenze hinausgeht. Dies mag auf unvorhersehbaren Komplikationen beruhen, die sich erst während der Reparatur zeigen. Denkbar ist aber auch, dass die vom Geschädigten mit der Durchführung der Reparatur beauftragte Werkstatt unsachgemäß arbeitet oder dem Geschädigten überhöhte Preise in Rechnung stellt.

Die Rechtsprechung geht davon aus, dass die tatsächliche Überschreitung der 130 %-Grenze nicht zu Lasten des Geschädigten gehen darf. Der Geschädigte kann daher auch in diesen Fällen den Ersatz der vollen Reparaturkosten verlangen.[50] Dahinter steht die Erwägung, dass der Schädiger das Prognoserisiko trägt.[51] Dies gilt auch dann, wenn die Überschreitung der 130 %-Grenze auf einem Verschulden der Werkstatt beruht. Den Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherer trifft damit das sog. Werkstattrisiko. Dogmatisch lässt sich diese Risikozuweisung damit rechtfertigen, dass die Verteuerung der Reparatur durch nicht vorhersehbare Erschwernisse oder durch das Verschulden der Werkstatt zu den Risiken gehört, die der Schädiger durch die Verursachung des schädigenden Ereignisses geschaffen hat. Hinzu kommt, dass die Herstellung des ohne den zum Ersatz berechtigenden Umstand bestehenden Zustands nach § 249 Abs. 1 BGB an sich Sache des Schädigers ist. Macht der Geschädigte nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB von seiner Ersetzungsbefugnis Gebrauch, so soll das daher nicht zu seinen Lasten gehen. Im Hinblick auf die Schadensminderungspflicht des Geschädigten aus § 254 Abs. 2 S. 1 BGB ist die Werkstatt daher auch nicht als dessen Erfüllungsgehilfe (§ 254 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 278 BGB) anzusehen.[52] In Betracht kommt daher nur ein eigener Verstoß des Geschädigten gegen die Schadensminderungspflicht nach § 254 Abs. 2 S. 1 BGB, etwa in Form eines Auswahlverschuldens durch Beauftragung einer ungeeigneten Werkstatt. Da der Geschädigte als Nichtfachmann nur eingeschränkte Erkenntnismöglichkeiten hat, ist davon aber im Regelfall nicht auszugehen.[53] Nach den Grundsätzen der subjektbezogenen Schadensbetrachtung sind also auch die überhöhten Kosten im Allgemeinen als "erforderlich" i.S.d. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB anzusehen.

[50] BGH v. 20.6.1972 – VI ZR 61/71, NJW 1972, 1800 (1801); BGH v. 15.10.1991 – VI ZR 314/90, BGHZ 115, 364 (370); BeckOGK/Brand, 1.3.2022, § 251 Rn 53; NK-BGB/Magnus, 4. Aufl. 2021, § 251 Rn 18; Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 11. Aufl. 2022, § 25 Rn 23; krit. BeckOK BGB/Flume, 64. Ed. 1.5.2022, § 249 Rn 186; zur abweichenden Beurteilung in einem Sonderfall OLG Celle v. 7.11.2017 – 14 U 24/17, r+s 2018, 161.
[51] BeckOGK/Brand, 1.3.2022, § 251 Rn 53; Staudinger/Höpfner, BGB, Neubearb. 2021, § 251 Rn 26; Geigel/Katzenstein, Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, §§ 249, 250 BGB Rn 17.
[52] BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 42/73, BGHZ 63, 182 (185); BGH v. 26.4.2022 – VI ZR 147/21, NJW 2022, 2840 Rn 12 m. Anm. Heßeler; Kemperdiek r+s 2022, 372 (373); Meyer-Näser NJW-Spezial 2018, 457.
[53] Geigel/Katzenstein, Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, §§ 249, 250 BGB Rn 16.

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