Die Entscheidung ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert:

1. Zum einen bestätigt der BGH seine Rechtsprechung, nach der der Geschädigte, der sein Fahrzeug behalten will, bei konkreter Abrechnung Reparaturkosten bis zu einer den Wieder-beschaffungswert um 30 % überschreitenden Höhe verlangen kann (Rn 8). Das ist so selbst-verständlich nicht. Immerhin gibt es Stimmen, die den sog. Integritätszuschlag für dogmatisch verfehlt und angesichts des Bedeutungswandels des Fahrzeugs auch nicht mehr für zeitgemäß halten (kritisch etwa Staudinger/Höpfner, § 249 BGB (2021) Rn 242 m.w.N.). Diese Kritik greift der BGH aber nicht auf, was darauf schließen lässt, dass der VI. Zivilsenat auch in gewandelter Besetzung insoweit zu einer grundsätzlichen Änderung seiner gefestigten Rechtsprechung keinen Anlass sieht.

2. Im Gegenteil; der Senat stellt klar, dass der Geschädigte ausnahmsweise über dem Wiederbeschaffungswert liegende Reparaturkosten auch dann verlangen kann, wenn die Prognose des Sachverständigen die magische Grenze von 130 % überschreitet. Das kann zwar niemanden überraschen; denn es liegt in der Konsequenz der Argumentation, war aber vom BGH in dieser Eindeutigkeit bislang noch nicht formuliert worden. In dem dem zitierten Urt. v. 14.12.2010 – VI ZR 231/09 – zugrunde liegenden Fall hatte der Geschädigte das Kunststück fertiggebracht, die vom Sachverständigen prognostizierten Reparaturkosten von 3.746,73 EUR deutlich zu unterschreiten. Sie lagen mit 2.139,70 EUR noch unter dem Wiederbeschaffungswert von 2.200,00 EUR und selbst wenn man die geschätzte Wertminderung 50,00 EUR hinzurechnete, war der Wiederbeschaffungswert noch nicht überschritten. Der BGH hatte damals formuliert, dass dem Geschädigten "jedenfalls unter solchen Umständen" eine Abrechnung der konkret angefallenen Reparaturkosten nicht verwehrt werden könne (BGH Urt. v. 14.12.2010 – VI ZR 231/09, juris Rn 13). Er hatte damit erst die Zweifel gesät, die er nun ausgeräumt hat. Denn was ihn damals zu dieser Einschränkung bewegte, lässt sich heute schwer nachvollziehen. Die Instanzgerichte hatten dieser Einschränkung deshalb auch keine große Bedeutung beigemessen und das Urteil schon damals so verstanden, dass der Geschädigte auch über dem Wiederbeschaffungswert liegende Reparaturkosten ersetzt verlangen kann, wenn er nachweisen kann, dass die Prognose des Gutachters falsch und sich eine fachgerechte und den Vorgaben des Sachverständigen entsprechende Reparatur auch zu einem Preis durchführen ließ, der unterhalb der 130 %-Marke lag. Für die Praxis dürften sich aus der jetzigen Klarstellung daher keine Konsequenzen ergeben.

3. Lesenswert sind überdies die Ausführungen zur Beweisvereitlung (Rn 12 f.). Wie schnell wird dieser Vorwurf erhoben, wenn der Geschädigte nichts anderes getan hat, als das Fahr-zeug zu verkaufen und damit von seinen Befugnissen aus § 903 S. 1 BGB Gebrauch zu machen. Dass er damit u.U. seine eigene Beweissituation nicht verbessert, liegt auf der Hand und sollte von ihm vor einer Weitergabe des Fahrzeugs stets bedacht werden. Von einer Beweisvereitelung kann aber, wie der BGH klarstellt, nur gesprochen werden, wenn die nicht beweisbelastete Partei dem beweisbelasteten Gegner die Beweisführung schuldhaft unmöglich macht oder erschwert, indem sie vorhandene Beweismittel vernichtet, vorenthält oder ihre Benutzung erschwert. Das ist im Falle eines Verkaufs typischerweise nicht der Fall.

Dr. Hans-Joseph Scholten, Rechtsanwalt und Mediator, VRiOLG a.D.

zfs 4/2022, S. 203 - 207

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