Es stellt sich die Frage, wie streng der Maßstab an das Öffentlichkeitsprinzip angelegt werden muss. Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist weder im Grundgesetz[1] noch in der StPO explizit erwähnt.[2] Er ergibt sich aus § 169, S. 1 GVG mit dem folgenden Wortlaut: "Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse ist öffentlich."

Bereits 1963 entschied das BVerfG, dass die Prinzipien der Öffentlichkeit und der Mündlichkeit der Verhandlung keine Verfassungsrechtsgrundsätze seien, sondern Prozessrechtsmaximen für bestimmte Verfahrensarten.[3]

Der letzten gewichtigeren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lag die Sicherungsverfügung eines Landgerichtspräsidenten in einem Strafverfahren zugrunde, die u.a. das Tragen von "Kutten", die die Zugehörigkeit zu einem Motorradclub demonstrieren, untersagt. Der Beschwerdeführer sah darin u.a. einen Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass der Grundsatz der Öffentlichkeit "außer durch ausdrückliche Regelungen auch durch gesetzlich nicht erfasste unabweisbare Bedürfnisse der Rechtspflege modifiziert werden" könne.[4] Man sollte in dieser Entscheidung noch keine klare Trennlinie zwischen den zulässigen und nicht mehr zulässigen Einschränkungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes sehen, wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt:

§ 169 GVG dient in erster Linie dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit, wobei die Massenmedienöffentlichkeit im Vordergrund steht.[5] Mayer betont als Hauptzweck die "Kontrolle des Verfahrensgangs durch die Allgemeinheit".[6] Der Grundsatz wird u.a. eingeschränkt zum Schutz der Persönlichkeitssphäre durch §§ 171a, 171b GVG und zum Schutz der Sicherheit des Staates, von Zeugen, Geschäfts- oder anderen schützenswerten Geheimnissen durch § 172 GVG. Weitere Einschränkungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes enthält § 48 Abs. 1 und 3 JGG. Explizite Einschränkungsmöglichkeiten für Verhandlungen in Bußgeldsachen enthalten das OWiG, die StPO oder das GVG jedoch nicht.

Mangels einer solchen expliziten Einschränkung für Bußgeldverhandlungen lassen die Richter mit einer strengen Auslegung des Öffentlichkeitsgrundsatzes eine protokollierte Einwilligung der Verteidigung nicht genügen und sehen bei einem Vorziehen der Verhandlung einen Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz. Es wäre nach diesem strengen Maßstab ja nicht auszuschließen, dass ein Interessierter morgens den Terminaushang gelesen, dann den Entschluss gefasst habe, nicht die Verhandlung gegen X um 13.00 Uhr, sondern die um 14.00 Uhr gegen Y zu besuchen und bis dahin das Gerichtsgebäude wieder verlassen habe. Diesem die Öffentlichkeit präsentierenden Interessierten würde aber die Gelegenheit zur Teilnahme genommen, wenn die Verhandlung vorgezogen würde, ohne dass er zuvor Kenntnis erlangen konnte. Deshalb sei eine Vorziehung ein Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz. In die gleiche Richtung argumentiert auch Mayer mit der Auffassung, dass die Vorschriftenüber die Öffentlichkeit der Verhandlung der Parteidisposition entzogen sei und das Gericht deshalb "nicht früher mit der Sitzung beginnen dürfe als angekündigt".[7]

Da die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ein absoluter Revisionsgrund im Sinne von § 338 Nr. 6 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG ist, sind die Bedenken der vorsichtigen Richter zunächst verständlich. Die andere Frage aber ist, ob diese Bedenken nach einer tieferen Prüfung noch aufrechterhalten werden müssen.

[1] Zur historischen Entwicklung siehe: Christian Laue, Die Öffentlichkeit des Strafverfahrens – Entwicklungen und Begründungen, //C:/Users/herma/Downloads/uni_hd_jura_material_13715 %20(3).pdf.
[3] BVerfGE 15, 303–307, Zi. 9 vom 7.3.1963 – 2 BvR 629/62, 2 BvR 637/62.
[5] Meyer-Goßner, Strafprozessordnung mit GVG und Nebengesetzen, 64. Aufl. § 169 GVG, Rn. 1 m.w.N.
[6] Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, 10. Auflage, 2021, § 169 Rn. 3.
[7] Mayer, a.a.O. zu § 169 Rn. 48 mit Verweis auf BGHSt 28, 341 = NJW 1979, 2622; BGH NStZ 1984, 134.

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