PflVG § 6; StGB § 316; StVG § 21 Abs. 1 Nr. 1 § 24a Abs. 2

Leitsatz

Wer einen unversicherten E-Scooter ohne Fahrerlaubnis im öffentlichen Straßenverkehr wie einen einfachen Tretroller mit bloßer Muskelkraft fortbewegt, verhält sich selbst dann weder strafbar noch ordnungswidrig, wenn er zuvor Drogen konsumiert hat, ohne Ausfallerscheinungen zu zeigen.

LG Hildesheim, Urt. v. 20.9.2022 – 13 Ns 40 Js 25077/21

1 Sachverhalt

Dem Angeklagten war zur Last gelegt worden, er habe am 13.5.2021 gegen 13:25 Uhr mit dem Elektrokleinstfahrzeug Typ Dualmoto Nanrobot 4 d plus (2000 Watt) (im Folgenden: E-Scooter), öffentliche Straßen unter dem Einfluss von Marihuana befahren, obwohl er wusste, dass er die zum Führen des Fahrzeugs benötigte Erlaubnis der Verwaltungsbehörde nicht hatte und das Fahrzeug auch nicht haftpflichtversichert war. Das AG – Strafrichter – hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen Gebrauchs eines Fahrzeugs auf öffentlichen Wegen und Plätzen ohne erforderlichen Haftpflichtversicherungsschutz zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt und ihn vom Vorwurf des Fahrens ohne Fahrerlaubnis freigesprochen. Gegen dieses Urteil haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte Berufung eingelegt. Ziel der Berufung der Staatsanwaltschaft war eine Verurteilung des Angeklagten auch wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Ziel des Rechtsmittels des Angeklagten war ein Freispruch insgesamt. Das LG Hildesheim hat auf die Berufung des Angeklagten das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen.

2 Aus den Gründen:

[…] III.

Die Kammer hat in der Berufungshauptverhandlung die erstinstanzliche Beweisaufnahme wiederholt und vertieft. Danach vermögen die Indizien, die dafür sprechen, dass der Angeklagte den E-Scooter unter Einsatz seines Elektromotors gefahren hat, diejenigen Indizien, aus denen sich eine realistische Möglichkeit dafür ergibt, dass der elektrische Antrieb, wie der Angeklagte angibt, zur Tatzeit nicht funktionierte und er das – bauartbedingt auch dafür geeignete – Fahrzeug deshalb wie einen Tretroller mit bloßer Muskelkraft angetrieben hat, um ihn gerade wegen des Defekts zum privaten Verkäufer in der Nähe der Wallensteinstraße zu bringen, nicht zur Überzeugung der Kammer zu überwinden.

Das Benutzen des E-Scooters als einfachen Tretroller durch den Angeklagten erfüllt auch keinen Straftatbestand oder zumindest den einer Verkehrsordnungswidrigkeit, und zwar weder unter dem Gesichtspunkt eines Vergehens nach dem Pflichtversicherungsgesetz (1.) noch unter dem Gesichtspunkt eines Fahrens ohne Fahrerlaubnis (2.) und auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Fahrens unter Drogeneinfluss (3.)

1. § 6 PflVG setzt ein "Gebrauchen" des Kraftfahrzeugs voraus. Gebrauchen bedeutet die bestimmungsgemäße Benutzung des Kraftfahrzeugs zum Zweck der Fortbewegung (vgl. Lampe in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 239. EL Dezember 2021, § 6 PflVG Rn 10; Sandherr in Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Aufl. 2021, § 6 PflVG Rn 24; jeweils m.w.N.). Rechtsprechung dazu, ob das Fortbewegen eines E-Scooters mit bloßer Tretkraft ein Gebrauchen i.S.v. § 6 PflVG darstellt, ist, soweit ersichtlich, bislang nicht veröffentlicht. Auch die Kommentarliteratur (vgl. Lampe in Erbs/Kohlhaas, a.a.O.; Sandherr in Haus/Krumm/Quarch, a.a.O.; Kretschmer in MüKo zum StVR, 1. Aufl. 2016, § 6 PflVG Rn 28) verhält sich dazu nicht. Zu den Fallgestaltungen, in denen ein Kraftfahrzeug mit bloßer Muskelkraft fortbewegt worden ist, werden im Wesentlichen folgende – allesamt ältere – Entscheidungen zitiert:

Das KG hat mit Urt. v. 6.9.1973 – 3 Ss 125/73 – (VRS 25, 475) das Fortbewegen eines – unversicherten – Mopeds (Fahrrad mit Hilfsmotor) mit Tretkraft als "Gebrauchen" i.S.v. § 6 PflVG angesehen.
Das OLG Düsseldorf hat mit Urt. v. 29.9.1981 – 2 Ss 426/81 – 219/81 II – (VRS 62, 193) entschieden, dass das Fortbewegen eines Mofas, indem sich der Fahrer auf dem Sattel sitzend mit den Füßen vom Erdboden abstößt, nicht unter § 24a StVG (Führen eines Kraftfahrzeugs nach Alkoholkonsum) fällt.
Mit Beschl. v. 31.1.1984 – 5 Ss 315/83 – 1/84 – (VRS 67, 154) hat das KG ausgeführt, dass es sich um einen Gebrauch i.S.v. § 6 PflVG dann nicht handelt, wenn das Fahrzeug abgeschleppt, von Tieren gezogen, Menschen geschoben oder auf einem anderen Kraftfahrzeug transportiert worden ist.

Alle diese Entscheidungen beruhen auf dem Grundsatz, dass die von Kraftfahrzeugen ausgehende typische Verkehrsgefahr in der Regel fehlt, wenn ein Kraftfahrzeug durch (betriebs-)fremde Kräfte – beispielsweise durch bloßes Schieben, Ziehen oder durch die eigene Körperkraft – im Verkehr bewegt wird. Bei der Anwendung dieses Grundsatzes auf den vorliegenden Fall ergibt sich, dass die typische Gefahr eines E-Scooters darin besteht, dass er viel höhere, gleichbleibende Geschwindigkeiten erzielt als ein einfacher Tretroller und dass der Fahrer dabei zudem anders als beim Tretroller keinen regelmäßigen Bodenkontakt und damit auch weniger körperliche Kontrolle über das Fahrzeug hat. Wir...

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