[…] III.

Die Kammer hat in der Berufungshauptverhandlung die erstinstanzliche Beweisaufnahme wiederholt und vertieft. Danach vermögen die Indizien, die dafür sprechen, dass der Angeklagte den E-Scooter unter Einsatz seines Elektromotors gefahren hat, diejenigen Indizien, aus denen sich eine realistische Möglichkeit dafür ergibt, dass der elektrische Antrieb, wie der Angeklagte angibt, zur Tatzeit nicht funktionierte und er das – bauartbedingt auch dafür geeignete – Fahrzeug deshalb wie einen Tretroller mit bloßer Muskelkraft angetrieben hat, um ihn gerade wegen des Defekts zum privaten Verkäufer in der Nähe der Wallensteinstraße zu bringen, nicht zur Überzeugung der Kammer zu überwinden.

Das Benutzen des E-Scooters als einfachen Tretroller durch den Angeklagten erfüllt auch keinen Straftatbestand oder zumindest den einer Verkehrsordnungswidrigkeit, und zwar weder unter dem Gesichtspunkt eines Vergehens nach dem Pflichtversicherungsgesetz (1.) noch unter dem Gesichtspunkt eines Fahrens ohne Fahrerlaubnis (2.) und auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Fahrens unter Drogeneinfluss (3.)

1. § 6 PflVG setzt ein "Gebrauchen" des Kraftfahrzeugs voraus. Gebrauchen bedeutet die bestimmungsgemäße Benutzung des Kraftfahrzeugs zum Zweck der Fortbewegung (vgl. Lampe in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 239. EL Dezember 2021, § 6 PflVG Rn 10; Sandherr in Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Aufl. 2021, § 6 PflVG Rn 24; jeweils m.w.N.). Rechtsprechung dazu, ob das Fortbewegen eines E-Scooters mit bloßer Tretkraft ein Gebrauchen i.S.v. § 6 PflVG darstellt, ist, soweit ersichtlich, bislang nicht veröffentlicht. Auch die Kommentarliteratur (vgl. Lampe in Erbs/Kohlhaas, a.a.O.; Sandherr in Haus/Krumm/Quarch, a.a.O.; Kretschmer in MüKo zum StVR, 1. Aufl. 2016, § 6 PflVG Rn 28) verhält sich dazu nicht. Zu den Fallgestaltungen, in denen ein Kraftfahrzeug mit bloßer Muskelkraft fortbewegt worden ist, werden im Wesentlichen folgende – allesamt ältere – Entscheidungen zitiert:

Das KG hat mit Urt. v. 6.9.1973 – 3 Ss 125/73 – (VRS 25, 475) das Fortbewegen eines – unversicherten – Mopeds (Fahrrad mit Hilfsmotor) mit Tretkraft als "Gebrauchen" i.S.v. § 6 PflVG angesehen.
Das OLG Düsseldorf hat mit Urt. v. 29.9.1981 – 2 Ss 426/81 – 219/81 II – (VRS 62, 193) entschieden, dass das Fortbewegen eines Mofas, indem sich der Fahrer auf dem Sattel sitzend mit den Füßen vom Erdboden abstößt, nicht unter § 24a StVG (Führen eines Kraftfahrzeugs nach Alkoholkonsum) fällt.
Mit Beschl. v. 31.1.1984 – 5 Ss 315/83 – 1/84 – (VRS 67, 154) hat das KG ausgeführt, dass es sich um einen Gebrauch i.S.v. § 6 PflVG dann nicht handelt, wenn das Fahrzeug abgeschleppt, von Tieren gezogen, Menschen geschoben oder auf einem anderen Kraftfahrzeug transportiert worden ist.

Alle diese Entscheidungen beruhen auf dem Grundsatz, dass die von Kraftfahrzeugen ausgehende typische Verkehrsgefahr in der Regel fehlt, wenn ein Kraftfahrzeug durch (betriebs-)fremde Kräfte – beispielsweise durch bloßes Schieben, Ziehen oder durch die eigene Körperkraft – im Verkehr bewegt wird. Bei der Anwendung dieses Grundsatzes auf den vorliegenden Fall ergibt sich, dass die typische Gefahr eines E-Scooters darin besteht, dass er viel höhere, gleichbleibende Geschwindigkeiten erzielt als ein einfacher Tretroller und dass der Fahrer dabei zudem anders als beim Tretroller keinen regelmäßigen Bodenkontakt und damit auch weniger körperliche Kontrolle über das Fahrzeug hat. Wird ein E-Scooter hingegen mit bloßer Muskelkraft benutzt, verhält er sich nicht anders als ein für Erwachsene ausgelegter Tretroller. Darin liegt auch der wesentliche Unterschied zum Moped, welches Gegenstand des Urteils des KG vom 6.9.1973 (VRS 25, 475) war. Das Kammergericht hatte dazu ausgeführt, dass die von dem Moped ausgehende Gefahr mit Rücksicht auf seine gegenüber einem Fahrrad schwierigere Handhabung, das größere Gewicht und das Vorhandensein eines Benzintanks nicht wesentlich geringer ist, wenn es statt mit Motorkraft mit Tretkraft fortbewegt wird.

Damit liegt zur Überzeugung der Kammer kein Gebrauchen i.S.v. § 6 PflVG vor, wenn ein E-Scooter wie ein einfacher Tretroller mit bloßer Muskelkraft gefahren wird.

2. Gem. § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG macht sich strafbar, wer ohne die erforderliche Fahrerlaubnis "ein Kraftfahrzeug führt". Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. NJW 2015, 1124, 1125 m.w.N.) ist Führer eines Kraftfahrzeugs, wer es unter bestimmungsgemäßer Anwendung seiner Antriebskräfte unter eigener Allein- oder Mitverantwortung in Bewegung setzt oder unter Handhabung seiner technischen Vorrichtungen während der Fahrtbewegung durch den öffentlichen Verkehrsraum ganz oder wenigstens zum Teil lenkt“. Nach dieser Definition ist für die Benutzung eines E-Scooters als bloßen Tretroller § 21 StVG erst recht nicht einschlägig.

3. Auch für den Umstand, dass die dem Angeklagten eine Dreiviertelstunde nach der Verkehrskontrolle abgenommene Blutprobe Wirkstoffkonzentrationen aufwies, di...

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