Die einfache oder erläuternde Auslegung soll dem wirklichen, im Testament zum Ausdruck gebrachten Willen des Erblassers zur Geltung verhelfen. Die ergänzende Testamentsauslegung zielt hingegen darauf ab, eine lückenhafte letztwillige Verfügung zu vervollkommnen.[81] Die ergänzende Testamentsauslegung führt zu Rechtsfolgen, die im Testamentswortlaut weder ausdrücklich noch dem Sinne nach angesprochen sind,[82] weil der Erblasser maßgebliche Verhältnisse zum Zeitpunkt der Errichtung oder künftige Entwicklungen nicht kannte oder unrichtig beurteilte. Die ergänzende Auslegung schließt daher Lücken im Testament, indem sie den Willen des Erklärenden ermittelt, den dieser bei richtiger Wertung gehabt hätte.[83] Auch die ergänzende Testamentsauslegung hat Vorrang gegenüber der Testamentsanfechtung nach § 2078 Abs. 2 BGB.[84]
Die Zulässigkeit der ergänzenden Testamentsauslegung ist in Rechtsprechung und Lehre unbestritten.[85] Ihre Rechtfertigung ergibt sich daraus, dass das Erbrecht viele Einzelbestimmungen und Ergänzungsregelungen enthält, die schon angesichts der Vielfalt der denkbaren Testamentsinhalte und der oft sehr langen Zeiträume zwischen Testamentserrichtung und Erbfall nicht abschließend sein können.[86] Auch kann aus dem Zweck des § 2084 BGB, wonach einer testamentarischen Regelung zur Wirksamkeit zu verhelfen ist, geschlossen werden, dass dem Willen des Erblassers immer Vorrang vor der gesetzlichen Erbfolge zukommen soll.[87] Außerdem besteht, worauf Brox[88] zu Recht hinweist, auch ein erhebliches praktisches Bedürfnis nach einer ergänzenden Testamentsauslegung, da eine Änderung des Testaments nach dem Tod des Erblassers nicht mehr möglich ist, während bei Geschäften unter Lebenden unter dem Gesichtspunkt der Änderung der Geschäftsgrundlage auch später noch eine Einigung über eine Anpassung erzielt werden kann.
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