Festzuhalten ist zunächst, dass das Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht eng mit dem Zivilrecht verwoben ist.[1] Zivilrechtliche termini und Deutungen sind vor allem für die Steuertatbestände von Bedeutung, die in ihrem Wortlaut explizit auf zivilrechtliche Normen verweisen, vgl. nur die hier streitgegenständlichen Erwerbe durch Erbanfall gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG oder aber Schenkungen auf den Todesfall gem. § 3 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG.[2] Als Konsequenz hieraus "folgt zwingend, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der dort angeführten Erwerbs- und Zuwendungsvorgänge dem Erbrecht zu entnehmen sind, das auf diese Weise die Person des Erwerbers, den Erwerbsgegenstand und Art und Umfang des Erwerbs bestimmt".[3]

§ 6 ErbStG stellt hiervon eine Ausnahme i.S. einer lex specialis dar. Als Ausnahme von der Regel, wonach bei Erwerben von Todes wegen gemäß den zuvor dargestellten Grundsätzen die Wertungen des Zivilrechts entscheidend sind, ist daher § 6 ErbStG zwingend eng und restriktiv zu verstehen und auszulegen. Eine vom Zivilrecht noch weiter abweichende Sicht – als es der Regelungsrahmen des § 6 ErbStG vorgibt – bedürfte angesichts der "durchgängigen Anknüpfung des ErbStG an das Zivilrecht sachlicher Gründe von einigem Gewicht"[4], die u.E. im vorliegenden Fall nicht gegeben sind.

§ 6 Abs. 1 ErbStG behandelt den Vorerben für Zwecke der Erbschaftbesteuerung fiktiv als Erben. Diese Fiktion wird für den Fall des Eintritts der Nacherbfolge durch den Tod des Vorerben in § 6 Abs. 2 S. 1 ErbStG dahingehend konkretisiert, dass der oder die Nacherben das Nacherbschaftsvermögen als vom Vorerben stammend zu versteuern haben. Geht in einem derartigen Fall zugleich eigenes Vermögen des Vorerben auf den oder die Nacherben über, verschmelzen diese beiden Vermögenserwerbe nicht zu einem einheitlichen Gesamterwerb i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG. Die Steuerfiktion beinhaltet keine solche Verschmelzung, sie fingiert nur den Erwerb des Nacherbschaftsvermögens als vom Vorerben stammend.

Diese Fiktion des Erwerbs vom Vorerben kann gem. § 6 Abs. 2 S. 2 ErbStG durch Antrag vom Steuerpflichtigen modifiziert werden. So führt ein dementsprechender Antrag dazu, dass für die Versteuerung der Nacherbschaft nicht mehr gem. § 6 Abs. 2 S. 1 ErbStG das Verhältnis zum Vorerben maßgeblich ist, sondern zum (zivilrechtlichen) Erblasser. Die Erwerbsfiktion des § 6 Abs. 2 S. 1 ErbStG wird folglich durch den Antrag wieder aufgehoben.

§ 6 ErbStG erfasst jedoch nicht den Fall der Erwerbe mehrerer Vorerbschaftsvermögen durch den Nacherben. Dies wird insbesondere durch folgende Überlegung deutlich: angenommen, 3 verschiedene Erblasser hätten 3 verschiedene Vorerbschaftsvermögen auf einen Vorerben übertragen. Im Verhältnis zwischen dem Nacherben und den 3 Erblassern sollen drei verschiedene Steuerklassen gegeben sein. Sodann widerspricht es jedem Verhältnismäßigkeitsgedanken sowie dem Vorbehalt des Gesetzes und dem Bestimmtheitsgebot, dass der Nacherbe nur zu einem Erblasser einen Freibetrag geltend machen kann. Nach den Vorgaben des Bestimmtheitsgebots wäre das auch gar nicht möglich, da die unterschiedlichen Erblasser im Verhältnis zum Nacherben unterschiedlichen Steuerklassen angehören. Welche Steuerklasse sollte denn in diesem Fall einschlägig sein?

Erfasst § 6 ErbStG also eine Sachverhaltskonstellation wie die dem Streitfall zugrundeliegende nicht, bleibt es mangels Analogiefähigkeit der lex specialis bei den legi generali, hier also bei den zivilrechtlichen Grundsätzen. Insbesondere ist daher die vom Zivilrecht vorgegebene Trennung zwischen verschiedenen Vorerbschaftsvermögen 1 und 2 einzuhalten.[5]

[1] Gebel, in: Troll/Gebel/Jülicher, ErbStG Kommentar, Einführung, Rn 29.
[2] Gebel, in: Troll/Gebel/Jülicher, ErbStG Kommentar, Einführung, Rn 30.
[3] Vgl. Gebel, in: Troll/Gebel/Jülicher, ErbStG Kommentar, Einführung, Rn 30.
[4] Vgl. Gebel, in: Troll/Gebel/Jülicher, ErbStG Kommentar, Einführung, Rn 31.
[5] Vgl. nur Palandt, BGB Kommentar, 79. Aufl. 2020, § 2100 BGB, Rn 2.

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