Zitat

"Die Reform der materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften des Betreuungsrechts ist auf das zentrale Ziel ausgerichtet, eine (…) konsequent an der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen orientierte Anwendungspraxis zu gestalten."[169]

Während der Gesetzgeber mit diesem Ansatz den Art. 2 GG zum archimedischen Punkt seiner Neuregelung macht, ist er über Art. 3 Abs. 1 GG an das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz sowie über Art. 20 GG an das Rechtsstaatsprinzip gebunden. Die Materialien lassen nicht erkennen, dass diese verfassungsrechtlichen Bindungen bei der Konzeptionierung der Reform hinreichend berücksichtigt worden sind.

[169] BT-Drucks 19/24445, 2.

1. Privatautonomie – Art. 2 GG

Bei seiner Fokussierung auf die Privatautonomie verkennt der Reformgesetzgeber durchaus nicht, dass "die möglichst umfassende Gewährung von Selbstbestimmung immer auch mit einer Gefährdung vulnerabler Personen verbunden ist."[170] Jedoch hält er eine solche Gefährdung zur Rechtfertigung legislatorischer Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich für nicht ausreichend.[171]

Drei Gesichtspunkte sprechen gegen die Richtigkeit dieser Auffassung und gegen die Tragfähigkeit des daraus abgeleiteten Konzepts:

Die "möglichst umfassende Gewährung von Selbstbestimmung"[172] auf der Grundlage des Art. 2 GG setzt "in objektiver Hinsicht die Möglichkeit voraus, von ihr tatsächlich und rechtlich Gebrauch machen zu können."[173] Die sog. Grundrechtsmündigkeit, ursprünglich verstanden als die Fähigkeit eines Minderjährigen, gerichtliche Verfahrenshandlungen zum Schutz eigener Grundrechte vorzunehmen,[174] ist inzwischen gefestigter Bestandteil der Grundrechtsdogmatik.[175] In den Konstellationen 1–3[176] fehlt es den mental eingeschränkten Vollmachtgebern jedoch gerade hieran: an der Fähigkeit bzw. Möglichkeit, von ihrer Selbstbestimmung tatsächlich und rechtlich Gebrauch machen zu können. Deshalb ist es dem Gesetzgeber nicht erlaubt, sie unter Verweis auf Art. 2 GG sich selbst zu überlassen.
Die in den Konstellationen 1–3 vulnerablen Menschen sind in Bezug auf ihre Betroffenheit in exakt derselben Lage wie der durch § 1814 Abs. 1 BGB adressierte Personenkreis. Während diesem Personenkreis durch gerichtliche Aufsicht über den Betreuer und Haftungssicherheit umfassender Missbrauchsschutz gewährt wird,[177] bleiben die betroffenen Vollmachtgeber von derselben Begünstigung ausgeschlossen. Dabei kann auch das neue Institut der Kontrollbetreuung konzeptionelle Ungleichbehandlung der beiden Normadressatengruppen nicht ausgleichen, bleibt doch der hierdurch bewirkte Schutz strukturell unzulänglich.[178]
Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist ein "gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem eine Begünstigung einem Personenkreis gewährt, einem anderen Personenkreis aber vorenthalten wird", dem Gesetzgeber ausdrücklich "verboten".[179] Weder von diesem Verbot noch von der selbst erkannten "Schutzpflicht des Staates gegenüber hilfebedürftigen Erwachsenen",[180] also gegenüber ausnahmslos allen Behinderten, kann sich der Reformgesetzgeber 2023 durch einen Verweis auf Art. 2 GG freizeichnen.
Schon deshalb ist dieser Verweis nicht geeignet, ein legislatorisches Konzept zu tragen, das die "Gefährdung vulnerabler Personen (scil. Vollmachtgeber)"[181] zwar erkennt, diese Personen jedoch nicht bzw. nicht hinreichend gegen die Gefahr schützen will.
Ohne Frage bedarf der Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht "stets einer besonderen Rechtfertigung."[182] Indes ist die Liste legislatorischer Eingriffe in die Privatautonomie von jeher lang. Sie reicht – um nur wenige Beispiele zu nennen – vom Nichtigkeitsverdikt über Verträge Erwachsener[183] oder die gesetzliche Festlegung zulässiger Vertragsinhalte[184] bis zu Benachteiligungsverboten (auch) im Zivilrecht.[185] In allen diesen Fällen sieht sich der Gesetzgeber entweder durch höherrangiges Recht oder durch politisches Wollen legitimiert.
Warum sollte diese Legitimation nicht auch für vulnerable Vollmachtgeber greifen?
Tatsächlich ist der Gesetzgeber schon durch Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG zu schutzwirksamen Eingriffen in das Selbstbestimmungsrecht Vertragsbetreuter nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Denn nur auf diese Weise lassen sich "Situationen struktureller Ungleichheit"[186] mit jenen Menschen beseitigen, die eine Vorsorgevollmacht nicht erteilen und deshalb den gesetzlichen Missbrauchsschutz nach §§ 1821 ff. BGB genießen.
[170] BT-Drucks 19/24445, 244.
[171] A.a.O. – allerdings wird dieser Ansatz nicht konsequent durchgehalten, vgl. § 1814 Abs. 3 Nr. 1 BGB.
[172] BT-Drucks 19/24445, 244.
[175] Hömig, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 2022, Vorbemerkungen Rn 21 m.w.N.
[176] Vgl. oben.
[177] Vgl. oben.
[178] Vgl. oben.
[179] BVerfGE 126, 400, 416.
[180] BT-Drucks 19/24445, 252.
[181] BT-Drucks 19/24445, 244.
[182] A.a.O.
[184] Z.B. § 2278 Abs...

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