Das Recht der betriebsbedingten Kündigung ist weiter erheblich im Fluss. Das Unionsrecht treibt das deutsche Kündigungsschutzrecht regelrecht vor sich her, vor allem im Bereich der sog. Massenentlassung für die im Berichtszeitraum auf vier Entscheidungen des EuGH hinzuweisen ist, welche sich auf die autonome Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften stützen und damit von der nationalen Auslegung deutschen Rechts abweichen. Weiter hat das BAG (Urt. v. 19.3.2015 – 8 AZR 119/14, dazu III. 3.) zum Schwellenwert des § 17 Abs. 1 S. 2 KSchG und zum Kernbereich der Sozialauswahl bei der Altersgruppenbildung (BAG, Urt. v. 26.3.2015 – 2 AZR 478/13, NZA 2015, 1122, dazu III. 4.) entschieden.

a) Einheitlicher Begriff der "Entlassung" in § 17 Abs. 1 bis 3 KSchG

Der EuGH (Urt. v. 27.1.2005 – C-188/03, NJW 2005, 1099) hat klarstellend entschieden, Art. 2 bis 4 der Richtlinie 98/59 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen seien dahin auszulegen, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers und nicht die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses als Entlassung für die Konsultations- und Anzeigepflichten des Arbeitgebers nach § 17 Abs. 2 KSchG gilt. Der Begriff der Entlassung i.S.d. § 17 Abs. 1 bis 3 KSchG stimmt überein. Der Arbeitgeber darf Massenentlassungen nach Ende des Konsultationsverfahrens i.S.d. Art. 2 der Richtlinie 98/59 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen und nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung i.S.d. Art. 3 und 4 der Richtlinie vornehmen (vgl. BAG, Urt. v. 20.2.2014 – 2 AZR 346/12, NZA 2014, 1069; BAG, Urt. v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, NZA 2015, 881).

 

Hinweis:

Das BAG empfiehlt im Arbeitgebermandat ein Vorgehen nach § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG: Der Arbeitgeber kann zwei Wochen nach vollständiger Unterrichtung des Betriebsrats gem. § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG rechtssicher und rechtswirksam unter Darlegung des Stands der Beratungen Massenentlassungsanzeige erstatten.

b) Autonomer, unionsrechtlicher Betriebsbegriff bedarf keiner Leitung

Weiter hat der EuGH in drei Entscheidungen (Urt. v. 30.4.2015 – C-80/14 "USDAW" und "Wilson/Woolworth" NZA 2015, 601 und Urt. v. 13.5.2015 – C-182/13, NZA 2015, 731 und EuGH, Urt. v. 13.5.2015 – C-392/13 "Rabal Cañas" NZA 2015, 669) im Anschluss an die "Rockfon"-Entscheidung (EuGH, Urt. v. 7.12.1995 – C-449/93) den "Betriebsbegriff" im Sinne der Richtlinie, abweichend vom deutschen, nationalen Betriebsbegriff, ausgelegt. Unionsrechtlich ist keine Leitung erforderlich. Nach dem BAG [muss] "die menschliche Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert werden" (vgl. BAG, Beschl. v. 9.12.2009 – 7 ABR 38/08, DB 2010, 1409). Das bedeutet: Auch betriebliche Einheiten ohne einheitliche Leitung, also sog. unselbstständige Betriebsteile nach § 4 Abs. 1 BetrVG, welche nach deutschem Recht dem Hauptbetrieb zugerechnet werden, können selbstständige Einheiten im Sinne des Unionsrechts sein und deshalb der Pflicht zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige unterliegen. Vergleichbar liegt es bei dem Begriff des "gemeinsamen Betriebs" mehrerer Unternehmen. Auch hier können einzelne Einheiten unionsrechtlich als selbstständig betrachtet werden (Produktion und Lager, Verwaltung und Logistik, Garnfärberei und Garnspinnerei, etc. ...). Als Folge der Rechtsprechung wurde nicht das Unternehmen, sondern jede Filiale des Unternehmens (Woolworth in England) als "Betrieb" im Sinne des Unionsrechts angesehen, weshalb wegen der Kleinteiligkeit die antragstellende Gewerkschaft unterlag. Der Schwellenwert von 20 Arbeitnehmern war jeweils nicht erreicht.

 

Hinweis:

Im Arbeitgebermandat sollte eine (vorsorgliche) Massenentlassungsanzeige bzgl. aller selbstständigen Einheiten geprüft werden. Im Arbeitnehmermandat darf die Rüge nicht vergessen werden.

c) Fremdgeschäftsführer und Praktikanten zählen beim Schwellenwert

Weil der unionsrechtliche Begriff des "Arbeitnehmers" autonom – unabhängig von nationalen Normen – auszulegen ist, zählen Fremdgeschäftsführer und Praktikanten bei der Berechnung des Schwellenwertes mit (vgl. EuGH, Urt. v. 9.7.2015 – C-229/14 "Balkaya", DB 2015, 1965). Der EuGH bejaht die Abhängigkeit und damit die Arbeitnehmereigenschaft bereits dann, wenn gesellschaftsrechtliche Weisungen möglich sind. Der Fremdgeschäftsführer unterliegt damit stets den Weisungen der Gesellschafter. Vorsicht: Für die Anwendbarkeit des ArbGG (§§ 2 u. 5 ArbGG) und für das materielle Arbeitsrecht verbleibt es für den nationalen Arbeitnehmerbegriff bei der bisherigen Auslegung, anhand der sog. persönlichen Abhängigkeit. Dafür genügt die Möglichkeit gesellschaftsrechtlicher Weisungen gerade nicht, vielmehr bedarf es der Weisungen bzgl. Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit (vgl. zuletzt zu einer Artistengruppe: BAG, Urt. v. 11.8.2015 – 9 AZR 98/14, Rn 16, BB 2015, 2099 und Ls. BB 2016, 52; ärztlicher Gutachter: BAG, Urt. v. 21.7.2015 – 9 AZR 485/14, Rn 20, BFH/NV 2016, 367).

Weil es weder auf den Umfang der Tätigkeit, noch auf deren Entgeltlichkeit ankommt, fallen auch Praktikanten unter den autonomen, "unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff" und zählen bei der Berechnung des Schwellenwertes.

d) Befristetes Arbeitsverhältnis zählt beim Schwellenwert/Änderungskündigung ist Entlassung

Zul...

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