Der Begriff der Primärverletzung bezeichnet die für die Erfüllung der Haftungstatbestände des § 823 Abs. 1 BGB und des § 7 Abs. 1 StVG erforderliche Rechtsgutsverletzung. Er enthält kein kausalitätsbezogenes Element. Von den Primärverletzungen sind Sekundärverletzungen abzugrenzen. Bei ihnen handelt es sich um die auf eine haftungsbegründende Rechtsgutsverletzung zurückzuführenden haftungsausfüllenden Folgeschäden. Sie setzen schon begrifflich voraus, dass der Haftungsgrund feststeht. Vom Geschädigten können daher Beeinträchtigungen seiner körperlichen Befindlichkeit nur dann als Sekundärverletzungen qualifiziert werden, wenn eine durch das Handeln des Schädigers verursachte Primärverletzung unstreitig oder festgestellt und nach medizinischen Erkenntnissen grds. geeignet ist, die weitere behauptete Beeinträchtigung der körperlichen Befindlichkeit herbeizuführen. Fehlt es an einer haftungsbegründenden Primärverletzung oder steht diese in keinem erkennbaren medizinischen Zusammenhang zu der weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigung, ist letztere als – ggf. zweite bzw. weitere – Primärverletzung anzusehen. Der Verursacher eines Verkehrsunfalls kann grds. auch für psychische Auswirkungen einer Verletzungshandlung haftungsrechtlich einzustehen haben. Die Schadensersatzpflicht für Beeinträchtigungen der körperlichen Befindlichkeit setzt nicht voraus, dass sie eine organische Ursache haben. Auch eine nur psychisch vermittelte Körperverletzung ist dem verantwortlichen Schädiger grds. zuzurechnen. Es entlastet den Schädiger grds. nicht, wenn der Geschädigte durch frühere Unfälle in seiner seelischen Widerstandskraft so weit vorgeschädigt war, dass nur noch ein geringfügiger Anlass genügte, um psychische Fehlreaktionen auszulösen (BGH NJW 2022, 3509 = DAR 2022, 628 m. Anm. Luckey = NZV 2022, 516 m. Anm. Drewes = zfs 2022, 552 m. Anm. Scholten). Ein gerichtliches Sachverständigengutachten ist zum Nachweis einer posttraumatischen Belastungsstörung nur geeignet, wenn es wissenschaftlichen Standards genügt, insb. nach der anerkannten medizinischen Definition ein posttraumatisches Belastungssyndrom (ICD10: F43.1) darlegt. Die Abgrenzung psychisch vermittelter Folgeschäden von etwaigen Vorschäden erfordert eine vollständige und kritische Sachverhaltswürdigung sowohl durch den Sachverständigen als auch durch das Gericht, die nicht allein auf ungeprüften Angaben des Geschädigten beruhen darf (OLG Celle NJW 2023, 78; zur PTBS näher Balke, SVR 2022, 361). Zum Verjährungsbeginn von unfallbedingten Spätschäden OLG Schleswig NJW 2023, 528.

 

Abschließende Hinweise:

Die aktuellen Entwicklungen im Straßenverkehrsrecht referieren Heß/Burmann, NJW 2022, 3047. Näher zu den Auswirkungen von Fahrassistenzsystems in der gutachterlichen Praxis Dietrich, VRR 10/1022, 4 und für die Unfallrekonstruktion Nugel, VRR 2/2023, 4. Zu Indizien für eine Unfallmanipulation OLG Hamm NJW 2022, 2853 = NZV 2022, 579 (Lempp); OLG Schleswig NJW-RR 2023, 175: allg. Nugel, zfs 2023, 124. Eingehend zum selbstständigen Beweisverfahren nach § 485 Abs. 2 ZPO Becker, zfs 2022, 544, 604. Zur Verwertung illegal beschaffter Beweismittel näher Krämer, DAR 2022, 617. Zur Erstattungsfähigkeit von Corona-Desinfektionskosten eines Kfz-Sachverständigen BGH NZV 2023, 115 m. Anm. Moser = DAR 2023, 140 = VRR 3/2023, 11 [Nugel]). Ein Mandat, das einem Rechtsanwalt „wegen Verkehrsunfall” erteilt wird, erstreckt sich nicht auf die Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber einem privaten Unfallversicherer, auch wenn dieser mit dem Haftpflichtversicherer des Unfallgegners identisch ist (OLG Schleswig zfs 2022, 400 = NZV 2022, 489 [Vyvers]). Zum Verbot der Pfändung eines Pkw bei einer psychischen Erkrankung des Schuldners BGH DAR 2023, 30 = NJW-RR 2022, 1651.

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