Das OLG Hamm (Beschl. v. 10.11.2015 – 5 RVs 125/15, VRR 4/2016, 11 = StRR 7/2016, 15) rückt noch einmal eine Frage in den Fokus, die bei der Verteidigung im Verkehrsstrafrecht häufiger übersehen wird, nämlich die der Widerlegung der Regelvermutung des § 69 StGB. Davon war das LG, das den Angeklagten u.a. wegen Verstößen gegen §§ 142, 35c StGB verurteilt hatte, aufgrund von Bekundungen einer Therapeutin des Angeklagten, die als Heilpraktikerin für Psychotherapie tätig war und bei der sich der Angeklagte in Behandlung befunden hatte, ausgegangen. Das OLG (a.a.O.) hat das anders gesehen. Nach dessen Auffassung war die Widerlegung der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB vom LG nicht tragfähig begründet. An die Widerlegung der Regelvermutung seien gesteigerte Anforderungen zu stellen, sofern es sich, was der Fall war, um einen Wiederholungstäter handelt, gegen den bereits früher Maßregeln nach §§ 69, 69a StGB verhängt worden seien. Der Angeklagte sei – so das OLG – gerade einmal 4 ½ Monate vor den abgeurteilten Straftaten wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs durch Trunkenheit verurteilt worden. Außerdem sei die Fahrerlaubnis des Angeklagten entzogen und eine Sperrfrist von drei Monaten verhängt worden. Die abgeurteilten Straftaten habe der Angeklagte nur sechs Wochen nach Neuerteilung der Fahrerlaubnis begangen. In einem solchen Fall könne der gesetzlich vermutete Eignungsmangel nur ganz ausnahmsweise und sicherlich nicht allein durch die Bekundungen einer Therapeutin (Heilpraktikerin), die der Angeklagte privat zum Zwecke einer psychotherapeutischen Behandlung aufsucht, ausgeräumt werden. Vielmehr bedürfe es der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung, § 11 Abs. 3 S. 1 FeV; vgl. Fischer, a.a.O., § 69 Rn 36), das sich eingehend und nach Maßgabe anerkannter Begutachtungsrichtlinien zur Eignung des Angeklagten, Kraftfahrzeuge im Straßenverkehr zu führen, verhält (s.a. OLG Köln, Beschl. v. 1.3.2013 – 1 RVs 36/13; LG Oldenburg zfs 2002, 354, 355). Die Notwendigkeit, ein solches medizinisch-psychologisches Gutachten einzuholen, ergab sich für das OLG auch unter Berücksichtigung der Wertungen, die in den Regelungen des § 13 Abs. 1 S. 1 Nr. 2b und c FeV zum Ausdruck gebracht worden sind. Dort sei für das Verwaltungsverfahren ausdrücklich bestimmt, dass zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen ist, wenn wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen wurden oder ein Fahrzeug im Straßenverkehr bei einer BAK von 1,6 ‰ oder mehr geführt wurde. Diese Vorschrift biete auch dem Strafrichter eine Leitlinie, in welchen Fällen er bei beabsichtigter Abweichung von der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB gehalten sei, ein entsprechendes Gutachten einzuholen oder von dem Angeklagten beibringen zu lassen (so auch OLG Naumburg zfs 2000, 554, 556).

 

Hinweis:

Für den Verteidiger ist aus der Entscheidung abzuleiten, dass es sich nicht nur im Hinblick auf die spätere Neuerteilung der Fahrerlaubnis im Verwaltungsverfahren, sondern auch schon im Hinblick auf die Entziehung der Fahrerlaubnis im Strafverfahren "lohnen" kann, den Mandanten frühzeitig vorzubereiten und die Einholung entsprechender Gutachten zu veranlassen. Dabei sollte es sich dann aber um ein medizinisch-psychologisches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (§ 11 Abs. 3 S. 1 FeV) handeln. Mit allen anderen Maßnahmen ist "der Krieg" wohl nicht oder nur sehr schwer zu gewinnen (zum Fahrerlaubnisrecht s. die entsprechend anwendbaren Ausführungen von Kalus in: Burhoff/Kotz [Hrsg.], Handbuch für die strafrechtliche Nachsorge, 2016, Teil H Rn 498 ff.).

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